Selbstwert ade
Wenn wir merken, dass es im Grunde gar nicht um uns geht, fühlt sich das schlecht an.
Ich habe Schüler kennengelernt, die im Klassenraum 100% „verhaltensauffällig“ waren, als „unbeschulbar“ und nicht tragbar galten; aber außerhalb des Klassenraums, in Einzelgesprächen, in den Pausen oder auf Klassenfahrten, da waren sie umgängliche, wissbegierige und lernbereite junge Menschen.
Wenn jemand (Lern-)Bedürfnisse hat, und diese wieder und wieder nicht gesehen werden, kann das traurig machen, verzweifelt, wütend, hilflos, aggressiv oder einfach nur stumm.
Nicht angenommen und geschätzt zu werden, so, wie wir da sind, und nicht gesehen werden mit dem, was wir wollen, ist unfassbar verletzend. Diese Verletzung äußert sich auf verschiedene Weisen: Von besagten Gefühlen wie Wut bis hin zu Aufmerksamkeits“defiziten“, Lern“schwächen“ – die übrigens als solche nur anhand von Standards definiert werden können – bis hin zu körperlichen Symptomen, Schmerzen und Krankheiten.
Wenn wir uns erst verbiegen, anstrengen und beweisen müssen, um Wertschätzung zu bekommen, fühlen wir eine riesige Enttäuschungswut. Doch wohin mit der? Manchmal zeigt der Körper, was sonst nicht gezeigt werden kann:
“In Europa hat inzwischen jedes zweite Kind eine chronische Krankheit. Das gab es in der gesamten Geschichte der Menschheit noch nicht. Bei größtmöglichem medizinischen Fortschritt waren unsere Kinder noch nie so auffallend krank wie heute”, sagt Kindheitsforscher Michael Hüter.
Nimm’s bitte nicht persönlich
Schulische Standards definieren somit nicht nur, wer leistungsfähig ist und wer nicht, sondern sie koppeln das Selbstwertgefühl eines jungen Menschen an die Erfüllung bestimmter Normen. Unser Wert (Einser- oder Sechserschüler) wird daran festgemacht, wie gut oder schlecht wir uns etwas merken und wieder „ausspucken“ können; wie gut oder schlecht wir uns in der Klasse benehmen, wie gut oder schlecht wir über einen Barren springen, wie gut oder schlecht wir das mit den Satzgliedern hinkriegen.
Dass Noten nichts über uns oder unsere Persönlichkeit sagen, und junge Menschen schulische Bewertungen doch bitte nicht persönlich nehmen sollen, halte ich für ein Paradox. Wie sollen junge Menschen die Bewertung eines Erwachsenen, der offensichtlich älter, reifer und erfahrener ist, und der in einer Institution arbeitet, die große Teile ihres Lebens einnimmt, nicht persönlich nehmen?
Wie soll man sich nicht andauernd mit anderen vergleichen und konkurrieren, wenn es subtil stets darum geht, der/die beste zu sein, und alle davon reden, wie wichtig die Abschlussnote ist?
Um all diese schulischen Bewertungen, die da quasi tagtäglich auf sie einprasseln, mal eben so „wegstecken“ zu können, bräuchten Schüler/innen ein Mammut-Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit und innere Gefestigtkeit. Können wir dies von Menschen erwarten, die gerade einmal zehn oder zwölf Jahre auf der Welt sind?
Schule als self-fulfilling prophecy
Andere argumentieren, dass wir Noten und Standards bräuchten, weil es „draußen“ in der Welt auch nicht anders sei, und junge Menschen darauf vorbereitet werden müssten. Schule dürfe keine Blase sein, es sei ja später auch nicht alles „easy“ im Leben.
Hier stellt sich mir die Frage, ob das „echte“ Leben nicht heute so aussieht, wie es aussieht, weil ein Großteil der Menschheit eben jene konkurrenzfördernden und indivualitäts-verneinenden Schulsysteme durchlaufen hat. Schulbildung als selbsterfüllende Prophezeiung: Wir trimmen und trainieren unsere Schüler/innen für das harte Leben später, und zeichnen ihnen immer wieder vor, wie schwer es später werden wird – und dann wird ihr Leben später tatsächlich hart und schwer.
Wie würde ihr Leben, wie würde eine Gesellschaft von morgen aussehen, wenn wir weniger auf Standarderfüllung und Konkurrenzdruck setzen würden, dafür aber auf individuelle Potenzialerfüllung – losgelöst von allen Standards?
Standards versus Menschlichkeit
Können wir bei Menschen und ihren Fähigkeiten überhaupt eine Mustergültigkeit, eine Norm, ein bestimmtes Qualitätsniveau anstreben? Neben der Frage, ob diese Standards, die wir da erschaffen haben, uns als Menschen gerecht werden, stellt sich auch die nach dem Sinn und Zweck: Lernen wir durch Standards etwa besser oder gar mehr?
Was bei Standardisierungen auf jeden Fall auf der Strecke bleibt sind Entdeckerfreude, Neugier, Motivation. Lernfreude kann ich nicht von außen konstruieren. Ja, ich kann für Sachen begeistern, die ich liebe, die mir Spaß machen. Oder ich kann ein besonders aktuelles, bewegendes Bild für eine Bildbeschreibung auf Englisch mitbringen, mir einen tollen Unterrichtseinstieg überlegen, der alle zum Mitreden aktiviert.
Aber, solange ich dabei Standards bediene oder im Hinterkopf habe, manipuliere ich: Denn ich möchte aktivieren, ich möchte Interesse wecken, ich möchte, dass die Schüler/innen sich äußern. Es ist mir nicht egal.
Auf die Spitze getrieben wird das Ganze in Lernentwicklungsgesprächen, in denen Schüler/innen im Beisein des Klassenlehrers genötigt werden, „eigene“ (natürlich schulverträgliche) Ziele und Vorhaben zu formulieren, diese vertraglich festzuhalten und zu unterschreiben.
(Fortsetzung nächste Seite)
Danke für diese klaren Worte…
Ich bin eine Hochsensitive und habe heute mit meinen 55 Jahren immer noch zu leiden unter Bewertungen ( obwohl ich einen sehr guten Notendurchschnitt hatte). In Prüfungen habe ich völliges Blackout.
Die Freude am Lernen hat, Gott sei Dank, nicht darunter gelitten.
Liebe Kerstin, vielen Dank dir für’s Lesen und für dein Feedback. Die Freude am Lernen ist zum Glück alterslos und übersteht – mit Glück – selbst die Schulzeit ;-)… LG Linda
Ich bin voll und ganz bei diesem Artikel! Aufrütteln und aufdecken von Altem ist wichtig und richtig. Nur mir fehlen Lösungsansätze. Wo bekomme ich hier Infos?
Ich bin selbst Grundschullehrerin in einer öffentlichen Schule in Österreich. Gibt es hier schon ein Netzwerk?
Ganz liebe Grüße
Liebe Maria! Wie schön, dass auch du Lust hast, etwas zu verändern! Es gibt schon Lösungsansätze und ein Netzwerk (jedenfalls in Deutschland), ich schreibe dir eine Email! Viele Grüße Linda
Ich war in der Schule faul, hatte andere Interessen, bekam nicht die besten Zensuren. Für die Oberschule (heute Gymnasium) reichte es nach der 10. Klasse nicht. Danach Lehre und auf Wunsch meines Vaters parallel dazu Volkshochschule. Nach Abschluss Abitur und Lehre Studium auf einer Uni. Dort war ich einer der wenigen, die in den Jahren keine Prüfung wiederholen musste und einen guten Abschluss bekam. Neben dem Studium war noch Zeit genug, eine Familie zu gründen.
Im Großen und Ganzen stimme ich dem Artikel zu, aber es bleibt eine Einzelmeinung.
(…) Die unumgängliche Revolution des Bildungssystems kann von allen darin Verstrickten aufgrund der darin wirkenden Nötigungs- und Erpressungsstrukturen trotzdem in allen Instanzen schrittweise vorangetrieben werden. Das funktioniert nur über eine künftige Bewegung ausgesprochener Gehorsamsverweigerung! Dazu sollte eine ethisch ehrliche Bewegung immer von Neuem aufrufen. Vor neuen wirklichen Bildungszielen muß dem Gehorsam unbedingt die Loyalität verweigert werden, weil dessen Dominanz als Betrug an der Menschlichkeit empfunden wird und in seinem Stallgeruch solidarische Bildung unglaubwürdig ist. So ist über eine Phase der Doppelherrschaft alter Repression, die gleichzeitige Entwicklung zu solidarischer Begegnungsstätte nicht lange ideologisch zu behindern. Jeglich denkbarer Freiraum sollte dazu genutzt werden.
Macht kaputt, was euch kaputt macht, um das endlich machen zu können, was euch erbaut.
[dieser Kommentar wurde in Absprache mit dem Verfasser gekürzt]
[…] Ich möchte aber eine Beobachtung festhalten: dass alle diese Ansätze nicht das Gesamtkonstrukt in Frage stellen. Sie alle gehen von der Unumstößlichkeit aus, dass wir Lehrer/innen vorgeben, WORUM es gehen soll, also das Thema, den Inhalt. Das hängt mit dem Curriculum zusammen, doch dazu an anderer Stelle mehr. […]
[…] und die absolute Absurdität von Vergleichsstudien wie PISA (dazu mehr in meinem Text „Schädliche Standards“) bleiben außen […]