Kaum Wahlfreiheit
Die Inhalte der Lehrpläne sind zwar mittlerweile weitestgehend umbetitelt worden in „Kompetenzen“, das Problem bleibt aber das gleiche. Ob standardisierte Inhalte oder Kompetenzen – die „all-in-one“-Lösung führt dazu, das junge Menschen in Schule so gut wie keine Chance haben, ihre eigenen Interessen zu entdecken und sich in diesen weiterzubilden.

Es wird alles für alle verpflichtend „angeboten“. Erst in der Oberstufe dürfen junge Menschen Profile oder Leistungskurse wählen – aber auch diese Wahl beschränkt sich ja auf einen schulisch vorgegebenen, eng gesteckten Rahmen. Von echter Wahlfreiheit kann hier also kaum die Rede sein.

Was hat das mit uns zu tun?
Die Vorgaben für die verschiedenen, zentralisierten Schulabschlüsse – und ich habe schon Abiturienten, Realschüler und Hauptschüler zum Abschluss begleitet – haben nichts oder nur in kleinstem Maße etwas zu tun mit meinen Schülerinnen und Schülern als Menschen, als Individuen, und dem, was sie können, was sie wollen, was sie zu sagen haben, was sie begeistert, was sie fühlen. Geschweige denn, dass sie etwas mit mir zu tun hätten – der Person, die ihnen tagtäglich gegenüber sitzt.

Gerade in den oberen Klassen wird es düster: In den Sprachen geht es fast nur noch um Textanalysen und Gedichtinterpretationen nach standardisiertem Aufbau… Und ich habe bisher keinen einzigen jungen Menschen kennen gelernt, der das gerne und aus eigenem Antrieb heraus gemacht hätte, geschweige denn, diese Kompetenzen für sein zukünftiges Leben als wichtig erachtet hätte. Nichtsdestotrotz nehmen diese Kompetenzen einen Großteil bei Abschlussprüfungen ein. Was sind das für Standards? Was sind das für vereinheitlichende, die Kreativität verneinende Prüfungen?

Stupide Aufgabenformate
„Ist das ein Idiotentest?“ fragte mich einmal ungläubig ein Schüler, als ich mit der Klasse die KERMIT-Testungen (Standardisierte Leistungstests an Hamburger Schulen) machte. Zurecht. Junge Menschen fühlen sich manipuliert, wenn bei ihnen Kompetenzen „abgezapft“ werden wie bei einer Kuh, die gemolken wird.
In anderen Bundesländern sind sogar schon Scherzaufgaben in Abschlussprüfungen gelangt. Wie konnte das passieren? Wie austauschbar und trivial sind Prüfungsfragen? Und was wird damit „diagnostiziert“?

Gleichschaltung: Lernprozesse lenken und vergleichen
Genau wie engstirnige Prüfungsformate, so sind auch Stundenlernziele ein Versuch, Schüler und Schülerinnen gleichzuschalten. Denn selbst, wenn ein Lernziel von vielen Menschen als gut und harmlos betrachtet wird, zum Beispiel wenn es „nur“ darum geht, ein Bild auf Englisch zu beschreiben: Es ist und bleibt vorgegeben, an welchem Tag, zu welcher Zeit und an welchem Ort diese Fähigkeit erlernt werden soll. Unabhängig davon, ob es überhaupt für jeden Schüler meiner Klasse zu der Zeit relevant ist und in dem gegebenen Setting gelernt werden möchte. Es wird ausgeblendet, ob er oder sie diese Kompetenz für sich als wichtig und lernenswert erachtet.

Es geht bei Prüfungen, Lernzielen und Co. aber nicht nur darum, Lernen und Lernwege zu lenken, also zu antizipieren bzw. vorzuebnen, sondern auch darum, den gewünschten Lernerfolg messen zu können und vergleichbar zu machen: Das heißt, wer die Standards nicht erreicht, der bekommt eine schlechte Note –  oder extra Förderung.

Was nicht passt, wird passend gemacht: Förderdiagnosen
Interessanterweise sind die Diagnosen für einen sonderpädagogischen Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen seit 2009 um 20% angestiegen. Hier drängt sich die Frage auf, ob die wachsende Zahl der Förderdiagnosen nicht auf ein ganz anderes Problem hindeutet. Brauchen 90.000 mehr junge Menschen eine spezielle Förderung, oder sollten etwa ein paar Standards überdacht werden?  Mit den wachsenden Diagnosen könnte auch ein ganz anderes Ziel verfolgt werden: Wer nicht (zu unseren Standards) passt, wird passend gemacht.

Standards verletzen
Standards sind überaus hilfreich, wenn es um Verkehrsregeln geht, um Airbags im Auto oder um Sicherheitsvorkehrungen in Flugzeugen. Doch angewandt auf Menschen richten Standards Verheerendes an.

Sie suggerieren, dass ein jeder Mensch bestimmten überprüfbaren Normen und Maßstäben entsprechen muss, um einen bestimmten Wert zugesprochen zu bekommen. Noten und Abschlusszeugnisse sind nichts anderes als Bewertungen – unser Wert (= in Form von Schulleistungen) wird anhand bestimmter Standards gemessen und protokolliert. Wie beim TüV.

Doch wenn diese Normen nicht oder nicht ausreichend erreicht werden, schwingen Entwertung und Erniedrigung mit, die wiederum verheerende Folgen für uns Menschen und unser Selbstwertgefühl haben.

(Fortsetzung nächste Seite)

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8 Kommentare

  1. Danke für diese klaren Worte…
    Ich bin eine Hochsensitive und habe heute mit meinen 55 Jahren immer noch zu leiden unter Bewertungen ( obwohl ich einen sehr guten Notendurchschnitt hatte). In Prüfungen habe ich völliges Blackout.
    Die Freude am Lernen hat, Gott sei Dank, nicht darunter gelitten.

    • Liebe Kerstin, vielen Dank dir für’s Lesen und für dein Feedback. Die Freude am Lernen ist zum Glück alterslos und übersteht – mit Glück – selbst die Schulzeit ;-)… LG Linda

  2. Ich bin voll und ganz bei diesem Artikel! Aufrütteln und aufdecken von Altem ist wichtig und richtig. Nur mir fehlen Lösungsansätze. Wo bekomme ich hier Infos?
    Ich bin selbst Grundschullehrerin in einer öffentlichen Schule in Österreich. Gibt es hier schon ein Netzwerk?
    Ganz liebe Grüße

    • Liebe Maria! Wie schön, dass auch du Lust hast, etwas zu verändern! Es gibt schon Lösungsansätze und ein Netzwerk (jedenfalls in Deutschland), ich schreibe dir eine Email! Viele Grüße Linda

  3. Ich war in der Schule faul, hatte andere Interessen, bekam nicht die besten Zensuren. Für die Oberschule (heute Gymnasium) reichte es nach der 10. Klasse nicht. Danach Lehre und auf Wunsch meines Vaters parallel dazu Volkshochschule. Nach Abschluss Abitur und Lehre Studium auf einer Uni. Dort war ich einer der wenigen, die in den Jahren keine Prüfung wiederholen musste und einen guten Abschluss bekam. Neben dem Studium war noch Zeit genug, eine Familie zu gründen.
    Im Großen und Ganzen stimme ich dem Artikel zu, aber es bleibt eine Einzelmeinung.

  4. (…) Die unumgängliche Revolution des Bildungssystems kann von allen darin Verstrickten aufgrund der darin wirkenden Nötigungs- und Erpressungsstrukturen trotzdem in allen Instanzen schrittweise vorangetrieben werden. Das funktioniert nur über eine künftige Bewegung ausgesprochener Gehorsamsverweigerung! Dazu sollte eine ethisch ehrliche Bewegung immer von Neuem aufrufen. Vor neuen wirklichen Bildungszielen muß dem Gehorsam unbedingt die Loyalität verweigert werden, weil dessen Dominanz als Betrug an der Menschlichkeit empfunden wird und in seinem Stallgeruch solidarische Bildung unglaubwürdig ist. So ist über eine Phase der Doppelherrschaft alter Repression, die gleichzeitige Entwicklung zu solidarischer Begegnungsstätte nicht lange ideologisch zu behindern. Jeglich denkbarer Freiraum sollte dazu genutzt werden.
    Macht kaputt, was euch kaputt macht, um das endlich machen zu können, was euch erbaut.
    [dieser Kommentar wurde in Absprache mit dem Verfasser gekürzt]

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