Wütendes Kindergeschrei am Heiligabend: „Ich hab mir was ganz anderes gewünscht!“
„Da kannst du dich beim Christkind bedanken!“
„Da warst du wohl nicht artig genug?“
„Vielleicht hast du es auf dem Wunschzettel nicht richtig beschrieben..“
Diese und ähnliche Sätze höre ich an Weihnachten häufig.

Doch Geschichten über das Christkind oder über den Weihnachtsmann sind Fake News. Sie stimmen einfach nicht. Es gibt weder Weihnachtsmann noch Christkind.
Diese Kunstfiguren können also auch für absolut nichts verantwortlich sein, geschweige denn für etwas verantwortlich gemacht werden.

Verantwortung – nein danke?
Wer ist dann verantwortlich? Äh, WIR. Die Erwachsenen. Denn wir sind es, die in der Regel die Geschenke kaufen.

Und sehr wahrscheinlich gibt es Gründe, weshalb das gewünschte Geschenk nicht besorgt werden konnte: zu wenig Geld, nicht ausreichend Zeit, keine Verfügbarkeit des Produkts. Oder man selbst fand das Gewünschte nicht altersgemäß oder aus anderen Gründen unpassend.

Wir enthalten Kindern diese Gründe vor, und erzählen ihnen stattdessen eine Geschichte, bezichtigen fiktive Figuren oder machen sogar die Kinder selbst verantwortlich für ihre Misere: „Selbst Schuld, wenn du den Wunschzettel nicht gut genug gestaltet hast!“ „Selbst Schuld, wenn du nicht artig genug warst!“

Selbst Schuld! Garant für Gehorsam
Besonders der Satz, nur wer artig ist, bekommt seinen Wunsch erfüllt, hat es in sich: Er garantiert gehorsame und fügsame Kinder – oder Rebellion. Denn das Erleben bei den Jüngsten, die diesen Satz zu hören bekommen, ist Hilflosigkeit und Frust.

Kinder geben immer ihr Bestes – auch, wenn sie sich in unseren Augen manchmal völlig „daneben“ benehmen. Da sie extrem abhängig sind von uns, unserer Liebe und Zuwendung, ist alles, was sie tun (oder nicht tun), ein Versuch, zu kooperieren. Auch, wenn es für uns nicht danach aussehen mag.

Die Art des Geschenks nun davon abhängig zu machen, ob ein Kind sich in unseren Augen „richtig“ verhalten hat, hat leider nichts mit wohlwollendem Schenken, Zuwendung und Liebe zu tun. Es ist Konditionierung: Wenn du tust, was von dir erwartet wird, dann wirst du dafür entsprechend „entlohnt“.

Kollektive Täuschung
Statt klar und ehrlich zu sagen, was Sache ist, und damit Verantwortung zu übernehmen, inszenieren wir lieber ein Konstrukt: vom Weihnachtsmann oder vom Christkind. Ein Märchen, von dem wir steif und fest behaupten — manchmal mit einem vielsagenden Augenzwinkern in Richtung anderer „Mitwisser“ —  es wäre wahr. Wir täuschen – und zwar ganz bewusst.

Kinder sind aufgrund ihres Alters noch wenig erfahren, relativ orientierungslos und gutgläubig. Wie süß? Eher verhängnisvoll. Denn es bedeutet: Sie glauben uns und dem, was wir sagen. Bedingungslos.

Unangenehme Fragen
Was macht es nun, wenn wir jahrelang jungen Menschen Fake News für Bares verkaufen? Die Wahrheit und damit die Enttäuschung werden irgendwann kommen, garantiert.
Was halten diese Menschen dann von uns, die wir ihnen jahrelang vom Christkind erzählt und so getan haben, als wäre dieses Realität?
Vertrauen sie weiterhin auf unser Urteil?
Oder zweifeln sie vielleicht plötzlich an allem, was wir ihnen bisher erzählt haben?
Wie verorten Kinder ein vielsagendes Augenzwinkern und die „double-bind“ Botschaft, die sich dahinter verbirgt?

Verwirrung und gesunde Psyche
Das Beharren auf Unwahrheiten verwirrt die grundlegende Wahrnehmungsfähigkeit und gesunde Funktion der menschlichen Psyche. „Eine gesunde menschliche Psyche kann unterscheiden zwischen Realitäten und Illusionen“, sagt Psychologieprofessor Franz Ruppert.
Bei Kindern bildet sich diese Fähigkeit noch aus, gerade hier kann also ein bewusstes In-die-Irre-führen fatale Folgen haben: das Vertrauen in die Urteilskraft und Integrität der Bezugsperson kann empfindlich ins Wanken geraten; Verwirrung, Unverständnis und Orientierungslosigkeit entstehen.

Magisches Denken
Zwar sind gerade junge Menschen offen für magisches Denken: Manchmal wollen Kinder sogar daran glauben, dass das mit Weihnachten und den Geschenken etwas Magisches ist, und Wunschzettel ans Christkind schreiben. Doch hier verhält es sich wie mit einer Theaterinszenierung: Kinder wissen, es ist nur ein Spiel.

Die Psychologin H. Wölfl sagt: „Auch wenn sie Bescheid wissen, können sie an das Magische glauben und daraus mehr Vorfreude für sich generieren.“ Diese Ambivalenz geht, weil sie selbst von den Kindern eingegangen wird (Quelle).
Doch wenn Eltern oder andere Bezugspersonen (Lehrerinnen und Lehrer) bewusst belügen, dann ist das Vertrauen in diese zumindest kurzfristig erschüttert.

Was bedeutet das für uns Lehrende?
Wir Lehrenden sollten uns dieser Hintergründe bewusst zu sein, denn auch wir, bzw. das, was wir sagen, beeinflusst Kinder und Jugendliche wesentlich. Und mit der Macht, die sich daraus ergibt, sollten wir möglichst sorgam umgehen.

Sich selbst als Weihnachtsmann oder Nikolaus zu verkleiden und damit große Augen und Lacher zu ernten, ist das eine — ganz bewusst Kinder (vor allem im Grundschulalter) zu verwirren („Ich habe das Christkind gesehen“) und hinters Licht zu führen oder gar zu drohen („Wenn ihr nicht artig seid…“), das andere.

Machtmissbrauch
Kleine Menschen sind abhängig von uns und unwissender. Lasst uns das nicht ausnutzen oder missbrauchen.
Denn mit der Instrumentalisierung von Christkind und Weihnachtsmann können wir Kinder wahlweise gefügig machen oder ihre Augen zum Leuchten bringen.

Nur weil es aus unserer Erwachsenen-Perspektive „schön“ oder „süß“ ist, wenn Kinder noch an den Weihnachtsmann oder ans Christkind glauben, muss das nicht automatisch auch für die Betroffenen schön sein.
Und nur, weil etwas „gute alte Tradition“ ist, oder weil man es selbst auch erlebt und keinen sichtbaren Schaden davon getragen hat, heißt das nicht, dass es gut ist, genauso weiterzumachen.

Foto: pixabay

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