„Du freust dich ja gar nicht!“
Eine Schülerin von mir kam gerade aus ihrer letzten Prüfung und wir liefen uns im Flur zufällig über den Weg. Sie wirkte missmutig und gereizt, was mich jedoch nicht davon abhielt, freudig auf sie zuzustürmen: „Mensch, Anna*! Du hattest doch gerade deine letzte Prüfung – wie lief es denn?“
„Hm, geht so“, brummelte Anna. „‘Ne Drei.“
Hey, das ist doch suuuper!!“ flötete ich. „Glückwunsch! Nun hast du es geschafft!!“
Meine Freude über Annas gerade erreichten Schulabschluss war einfach überbordend, ich grinste und konnte überhaupt nicht verstehen, weshalb sie sich nicht genauso freute.
„Freust du dich denn gar nicht!?“
„Hm, ja, doch. Aber ich hatte mir irgendwie mehr erhofft.“ Ihre Miene verdüsterte sich noch mehr.
„Heeeey, aber das ist doch kein Grund, so ein Gesicht zu machen! Du hast deinen Abschluss in der Tasche! Also ich freue mich jedenfalls für dich!“

Autsch.

Kein Grund zum Weinen?
Da haben Anna und ich schön aneinander vorbeigeredet – oder eher gesagt: ich an Anna vorbei. Das Prüfungsergebnis (vielleicht auch die Prüfung als solche) war für Anna enttäuschend. Was aber bedeutet dann mein Satz, es gebe „keinen Grund, so ein Gesicht zu machen“? Genau genommen meinte ich damit, dass ich keinen Grund sehe bzw. keinen, den ich nachvollziehen kann oder möchte. Und das Anna sich jetzt gefälligst freuen sollte.

Kürzlich las ich den Satz: „Alleine die Mutter entscheidet darüber, ob die Geburt für sie belastend war oder nicht“ (bei Nora Imlau und hier). Und das gilt nicht nur für Geburten. Ein Nicht-Beteiligter, der meint „Ach, das war doch alles nicht so schlimm“, hat häufig keine Ahnung, was er/sie da sagt.
Es kann nur der/die Betroffene selbst beurteilen, ob die eigene Kindheit, Schulzeit, Ehe oder der Arztbesuch für ihn/sie belastend war. Und genauso entscheidet jedes Kind darüber, ob der eigene Schulalltag, die Spritze beim Arzt, das Hinfallen mit dem Fahrrad oder die Mathe-Prüfung für ihn/sie belastend war.

Längere Zeit dachte ich, dass doch hiermit alles zu diesem Thema gesagt sei. Doch da ist noch mehr.

Harmlose Sprüche
Wenn Gefühlslagen zweier Menschen nicht übereinstimmen, so wie in der Situation mit Anna und mir, muss das erst einmal nicht tragisch sein. Ich darf mich freuen und gut drauf sein, auch, wenn es meinem Gegenüber gerade anders ergeht. Tückisch wird es jedoch dann, wenn ich dem/der anderen die eigenen Gefühle nicht erlaube bzw. ihre Legitimität in Frage stelle; nach dem Motto: „Das, was du gerade fühlst, ist völlig unangebracht!“

Dabei gibt es für jedes heftige Gefühl in der Regel einen konkreten Auslöser, der kürzere oder längere Zeit zurückliegt. „Jetzt wein‘ doch nicht wegen sowas“, „Das ist doch kein Grund zum Traurigsein“ oder „nun sei doch nicht so empfindlich“ sind Bemerkungen, die harmlos klingen mögen. Doch damit suggerieren wir, dass die Emotionen, die unser Gegenüber gerade zeigt, nicht richtig bzw. der Situation angemessen sind – und unterstellen, dass der/die andere übertrieben reagiere.

„Nun stell dich nicht so an“
In Momenten, wo wir auf andere Menschen und auf ihr Wohlwollen angewiesen sind, ist diese Bagatellisierung unserer Wahrnehmungen und Gefühle besonders bitter.
„Jetzt stell dich nicht so an“, sagt einmal eine Krankenschwester zu mir, als sie mir ohne Vorankündigung einen Sandsack auf eine noch frische OP-Narbe legte und ich unter Schmerzen aufschrie. Der Sandsack sollte die Heilung beschleunigen (fand ich viele Jahre später heraus) – für mich war es die reinste Tortur.
Dieser Satz bewirkte, dass ich Schuldgefühle (!) hatte und ich mich noch schlechter fühlte als sowieso schon. Schließlich wollte ich niemandem zur Last fallen oder mich „anstellen“. Die Wahrheit war: Ich hatte starke Schmerzen und die Krankenschwester nahm darauf überhaupt keine Rücksicht.

Victim blaming
Sätze wie „Nun stell dich nicht so an“ sind pure verbale Gewalt. Getarnt als flotter Spruch, lässt diese Aussage denjenigen, der sie äußert – den Täter – gut dastehen, während der andere – das eigentliche Opfer – als übertrieben emotional und dramatisierend dargestellt wird.

Das ist eine ziemlich fiese, da subtil-manipulative Strategie. Der/die Täter/in leugnet nicht nur die Wahrnehmung und Not des Opfers, sondern das Opfer selbst wird auch noch zum „Übeltäter“ gemacht: Er/sie (das Opfer) wird dafür verantwortlich gemacht, ihr/ihm (dem Täter) mit Absicht das Leben schwer zu machen.

Der psychologische Fachbegriff dafür lautet Täter-Opfer-Umkehr, auch bekannt als „Victim blaming“:
„Victim blaming oder blaming the victim, deutsch Täter-Opfer-Umkehr und Opferbeschuldigung ist die Beschreibung für ein Vorgehen, das die Schuld für einen Übergriff beim Opfer selbst sucht. Hierdurch kommt es zu einer verstärkten sekundären Viktimisierung und evtl. zu stärkeren Traumafolgestörungen. (bei wikipedia)

Victim blaming im Alltag
Der Begriff „victim blaming“ wurde bekannt im Kontext von Vergewaltigungsprozessen ab den 1970er Jahren, wenn Täter versuchten, Opfern die Schuld an der Tat zuzuschieben – zum Beispiel mit Verweisen auf „aufreizende Kleidung“ . Täter sind hierbei wohlgemerkt alle der am Prozess beteiligten, die ein solches Vorgehen dulden.

Doch die Täter-Opfer-Umkehr passiert viel öfter, als es uns bewusst ist, nicht nur in Gerichtssälen, sondern häufig ganz „nebenbei“ im Schul-, Kita- und Familienalltag.
Hier nur einige Beispiele:
–  Wenn der Vater im Supermarkt sein Kind grob am Arm zieht: „Was heulst du denn jetzt schon wieder? Nun hab dich doch nicht so!“
– Wenn die Sportlehrerin dem ängstlichen Schüler durch die Turnhalle zuruft: „Stell dich nicht so an, das ist doch ganz einfach!“
– Wenn die Mutter ihrer Tochter vorwirft „Nun sei mal nicht so zickig!“, weil die der Oma keinen Kuss geben möchte.
– Wenn der Mathelehrer seine Schüle anprangert: „Habt ihr das immer noch nicht verstanden? Herrje, ihr haltet hier den ganzen Laden auf!“

Überall hier werden Opfer zu Tätern gemacht – und die Täter kommen „ungeschoren“ davon. Es gibt noch viele weitere, subtil abwertende Zuschreibungen, die Täter zur Legitimierung ihres eigenes Verhaltens nutzen und dem Opfer anheften, um dessen Reaktion als übertrieben zu stigmatisieren.
Als Beispiele fallen mir diese hier ein (gerne in den Kommentaren ergänzen):
– „Bist du eine Heulsuse“/ „ein Weichei“ / „ein Angsthase“
– „Wegen jeder Kleinigkeit fängst du an zu heulen“
– „Du bist echt eine Zicke“  / „eine Drama-Queen“
– „Machst du wieder auf beleidigte Leberwurst?“
– „Nun zieh doch nicht so eine Schnute“
– „Du verstehst wohl keinen Spaß?“
– „Du bist aber bockig heute“
– „Du bist aber schnell eingeschnappt“
– „Nun sei doch nicht so empfindlich…Das war doch nur ein Witz!“

….weiter geht es auf der nächsten Seite
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*Name geändert

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