Seit 100 Jahren gilt in Deutschland Schulpflicht. Doch was, wenn Kinder nicht in die Schule gehen wollen? Sich dem Schulzwang zu entziehen ist strafbar, und das bringt viele junge Menschen in Not. Ein Appell für die Aufgabe der Schulpflicht.

Es sind aktuell Zeiten, in denen Filme wie „Elternschule“ gelobt werden und der MDR seine Hörer fragt, ob Schulschwänzer weiterhin mit Jugendarrest bestraft werden sollen. Gewalt an jungen Menschen ist so normal geworden, dass kaum jemand sie mehr wahrnimmt.
Dass auch die aktuell geltende Schulpflicht eine Form von Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist, mögen viele erst einmal für absurd halten.

Es lohnt daher ein Blick in die Geschichte: Bevor 1919 die allgemeine Schulpflicht in Deutschland eingeführt wurde, hatte der „Hausherr“ einer Familie dafür zu sorgen, dass seine Kinder unterrichtet werden. Das kontrollierte allerdings niemand. Kinder aus besser gestellten Familien hatten eigene Hauslehrer oder wurden auf Privatschulen geschickt, Kinder vom Land gingen oft leer aus. Mit der Einführung der Schulpflicht beschnitt der Staat diese elterliche Bestimmungshoheit. Der Gedanke dahinter war jedoch weit davon entfernt, Kinder in ihren Belangen ernst zu nehmen, er lautete schlichtweg: Der eigene Wille des Kindes, wenn es denn „bestimmungsfähig“ wäre, könne überhaupt kein anderer sein, als in die Schule gehen zu wollen.1
Diese Überzeugung hat sich bis heute gehalten: Noch immer glaubt der Staat, als Vormund auftreten zu müssen für Kinder und Jugendliche und rechtfertigt damit den Schulzwang. Formulieren kleine Menschen jedoch ihren eigenen Willen, der da lautet, nicht in die Schule gehen zu wollen, kommt der Staat in die Bredouille und verhängt Strafen.

Dabei deutet Vieles darauf hin, dass Kinder und Jugendliche mit der Bevormundung in Form der Schulpflicht eben nicht (mehr) einverstanden sind. Mittlerweile trauen sich sogar immer mehr, Schule zu „schwänzen“. Die alte Gehorsamskultur wie zu Zeiten der Weltkriege bröckelt – und heute, drei Generationen später, lassen sich junge Menschen zum Glück nicht mehr so einfach gefügig machen wie damals. Sie zeigen, was sie (nicht) wollen. Und ihr Wille kann durchaus ein anderer sein als der des Staates.

Das heißt jedoch nicht zugleich, dass junge Menschen, die nicht so viel Lust auf Schule haben, nicht lernen wollen. Ich bin davon überzeugt und erlebe es jeden Tag, dass Kinder etwas lernen wollen über die Welt und über sich. Auch die, die die Schule verweigern. Warum nicht jeder junge Mensch an fünf Tagen die Woche in der Schule sein möchte, dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Einer mag sein, sich gegen das schlechte Gefühl zu wehren, das Zwang und Anpassungsdruck in den meisten Menschen auslösen. Denn wenn ich zu etwas gezwungen werde, werde ich nicht gefragt und meine Bedürfnisse nicht gesehen. Sich dem zu verweigern kann also eine ganz gesunde Reaktion sein.

Strafen bei Verweigerung

Vorab: Ich bin Lehrerin und ich liebe meinen Beruf. Trotzdem möchte ich keinen Menschen, der nicht in meinem Unterricht sein möchte, dazu zwingen, dort zu sein. Genau das passiert jedoch täglich an deutschen Schulen – Lehrer/innen und Schulleitungen müssen Schüler und Schülerinnen ahnden, wenn diese sich Schule gegenüber verweigern. Wenn das durch pädagogische Kniffe nicht gelingt, treten Rechtsabteilungen und Jugendämter mit Zwangsmaßnahmen auf den Plan.
Schulabsentismus, das dauerhafte Fernbleiben vom Unterricht ohne belegbare Erkrankung, wird in Deutschland mindestens als Ordnungswidrigkeit, in einigen Ländern wie Hamburg sogar als Straftat geahndet. Den Eltern drohen Buß- und Zwangsgelder von bis zu 1000 €, es kann sogar zu Sorgerechtsentzug, Gefängnisstrafen (für die Eltern) und Jugendarrest (für die Schüler) kommen. Das paradoxe Ziel dabei: Eine Kindeswohlgefährdung zu vermeiden. Genau das geschieht jedoch, wenn Kinder von ihren Eltern getrennt oder in Jugendgefängnisse gesteckt werden. So stürzte kürzlich sogar ein fünzehnjähriges Mädchen von ihrem Zimmer in den Tod, als Beamte sie zum Arrest abholen wollen.

Der Staat greift rigoros in das Leben junger Menschen ein, häufig ohne abzuklären, ob wirklich eine Gefährdung für das Kind besteht. Hier äußert sogar der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Marcus Weinberg, Bedenken: „Die offenkundig große Bandbreite in der Einschätzung der Jugendämter und Familiengerichte, was als Kindeswohlgefährdung anzusehen ist, ist beunruhigend“ (FAZ, 21.10.2018).
Die Schulpflicht und ihre rigide Durchsetzung seitens der zuständigen Ämter haben schon manch Familie in Verzweiflung getrieben. Es gibt Eltern, die sich gezwungen sehen, auszuwandern, nur damit ihre schulverweigernden Kinder in Ruhe aufwachsen können, und sie selbst als Elternteile nicht ins Gefängnis wandern oder das Sorgerecht verlieren.
Der 21jährige Moritz Neubronner, dem ab der 2.Klasse die Schule nicht mehr gut tat, der Bauchweh und Kopfweh bekam vor jedem Schultag, sagt „Das System hat einfach nicht gepasst“. Er bildete sich weitgehend selbst und nahm auch seine Schulabschlüsse selbst in die Hand – heute hat er sein Abitur in der Tasche. Nicht in die Schule gegangen zu sein, hat er nie bereut.

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5 Kommentare

  1. Es macht mich jedes Mal traurig zu sehen, wie lern- und wissbegierige Kinder sich auf die Einschulung freuen und nach kurzer Zeit absolut enttäuscht sind, weil Schule am Ende eine Mischung aus Langeweilig, Pflicht und Angst (Pfüfung / Stress / Strafe) ist. Dieses System ist so überaltert und kaputt reformiert. Schule muss definitiv neu gedacht werden! Danke, dass du dich dafür einsetzt.

  2. […] „Warum nicht jeder junge Mensch an fünf Tagen die Woche in der Schule sein möchte, dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Einer mag sein, sich gegen das schlechte Gefühl zu wehren, das Zwang und Anpassungsdruck in den meisten Menschen auslösen. Denn wenn ich zu etwas gezwungen werde, werde ich nicht gefragt und meine Bedürfnisse nicht gesehen. Sich dem zu verweigern kann also eine ganz gesunde Reaktion sein.“ (Linda 2018) […]

  3. […] „Warum nicht jeder junge Mensch an fünf Tagen die Woche in der Schule sein möchte, dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Einer mag sein, sich gegen das schlechte Gefühl zu wehren, das Zwang und Anpassungsdruck in den meisten Menschen auslösen. Denn wenn ich zu etwas gezwungen werde, werde ich nicht gefragt und meine Bedürfnisse nicht gesehen. Sich dem zu verweigern kann also eine ganz gesunde Reaktion sein.“ (Linda 2018) […]

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