Stelle dir folgendes Szenario vor…

Du kommst an einen Ort, an dem fein säuberlich aufgeschichtet Holzlatten liegen, dazu Nägel, Hammer, Werkzeuge, Farbe, Kanister; alles wohlgeordnet, sogar Arbeitshandschuhe in deiner Größe. Dazu findest du eine Anleitung, in der steht, was du nun mit den ganzen Sachen tun sollst: ein Floß bauen. Du bekommst eine genaue Planungs-Skizze, mit den einzelnen Schritten, die du zu tun hast, und den Maßen, die das Floß am Ende haben soll. Es ist alles vorbereitet, du brauchst nur anzufangen. Sogar Vorschläge für den Namen des Floßes und Tipps für die erste Fahrt liegen bei. Achja, und dein Floß wird am Ende bewertet: wie seetauglich es ist, ob es die richtigen Maße hat, und ob auch alle weiteren Vorgaben eingehalten wurden.

Und nun stelle dir ein anderes Szenario vor…

Du willst ein Floß bauen. Du hast einen Film gesehen mit Huckleberry Finn und du willst auch so ein Floß, mit dem du tagelang über den Mississippi treiben kannst. Der ist zwar weit weg, aber du denkst dir, der örtliche Badeteich tut’s auch.
Du überlegst dir, was du brauchst… Woher bekommst du Holz? In deinem Dorf gibt es ein Sägewerk, vielleicht könntest du da mal anfragen (obwohl du sehr schüchtern bist und dich das Überwindung kosten wird).. Und wie schaffst du das Zeug zu dir nach Hause? So Holzlatten sind bestimmt schwer. Kurzerhand fragst du eine Freundin, ob die nicht mitmachen will bei deinem Unterfangen. Klar, die ist dabei. Gemeinsam zieht ihr zum Sägewerk und fragt höflich nach übrig gebliebenem Holz, und siehe da, ihr bekommt welches. An einer Tankstelle bekommt ihr leere Kanister. Stolz wie Bolle zieht ihr mit dem Zeug nach Hause. Für den Transport habt ihr euch den Fahrradanhänger vom Nachbar geliehen.

Die nächsten Wochen werkelt ihr jeden Nachmittag stundenlang herum. Schließlich ist das Ding fertig – etwas windschief, aber es hält, und euch gefällt‘s. Ihr habt euch einen Namen überlegt und das Floß feierlich getauft. Nun müsst ihr das Ganze nur noch zum See bekommen. Der Fahrradanhänger muss wieder herhalten, und so setzt sich eure kleine Karawane in Gang…

Fähigkeiten-Check
Okay, die Fragen, die nun kommen, lassen sich leicht erahnen: Was hat dir mehr Spaß gemacht? Und: Was hast du in den jeweiligen Situationen gelernt?

Situation Nr. 2 hat sich tatsächlich genau so zugetragen, als ich ungefähr 11 Jahre alt war.
Was haben wir dabei gelernt?
Wir haben gelernt zu planen, im Team zu arbeiten, über den eigenen Schatten zu springen, freundlich Erwachsene um Hilfe zu bitten, logistische Herausforderungen und Probleme zu meistern, flexibel zu sein, unser Ziel zu verfolgen, uns nicht abbringen zu lassen.

Was hätten wir in der ersten Situation gelernt?
Wir hätten gelernt, Anweisungen korrekt auszuführen.

Wenn wir also nach der Bandbreite der Fähigkeiten gehen, geht Situation zwei klar als Siegerin hervor.
OK.
Was wollen wir nochmal in Schulen erreichen? Achja genau, wir wollen möglichst viele Fähigkeiten vermitteln.

Was machen wir in Schule? Wir bereiten alles vor
Was mache ich da eigentlich, wenn ich meinen Schüler/innen bestimmte Themen vorgebe, und für den Unterricht zu diesen Themen ein Lehrbuch benutze und Arbeitsblätter verteile?

Ich schaffe eine hochgradig vorgegebene Umgebung. Ich gebe vor, was zu tun ist und wie es zu tun ist. Arbeitsblätter mit Aufgaben sind nichts anderes als nach Anleitung ein Floß zu bauen.   (Fortsetzung auf der nächsten Seite)

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4 Kommentare

  1. Long time reader, first time commenter — so, thought I’d drop
    a comment.. — and at the same time ask for a favor.

    Your wordpress site is very simplistic – hope you don’t mind me asking what
    theme you’re using? (and don’t mind if I steal it?
    :P)

    I just launched my small businesses site –also built in wordpress like yours– but the theme slows (!) the
    site down quite a bit.

    In case you have a minute, you can find it by searching for
    „royal cbd“ on Google (would appreciate any feedback)

    Keep up the good work– and take care of yourself during
    the coronavirus scare!

    ~Justin

    • Hello Justin, thank you for your comment. I didn’t expect to have any English speaking readers – but obviously there are – what a nice surprise. The theme I use is called „Newspaper“ by tagDiv (I bought it at Themeforest). It comes with some design options and the one I use for this blog is called „Book Club“.
      However, your website (online shop) looks quite professional already – I would keep it ;-). Good luck and best regards! Linda

  2. Deine Geschichte erinnert mich stark an das Zitat von Antoine de Saint-Exupéry:
    „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“

    • Lieber Henning, danke, und ja, das Zitat passt hier wirklich sehr gut! Ich hatte es auch schon einmal gelesen…
      Ein Sog (eigene Sehnsucht) „packt“ uns meistens mehr als Druck (von oben) ;). Herzliche Grüße!

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