Kreativität braucht absoluten Freiraum
Selbst wenn ich im Deutschunterricht „kreatives Schreiben“ einführe oder in Bio eine Verdauungs-Maschine basteln lasse – dies lässt meine Schüler/innen nicht wirklich kreativ werden oder ihre Talente entdecken. Kreativität kann man nicht lenken oder von außen erzeugen – sie bewegt sich nicht in vorgezogenen Bahnen.
Im Gegenteil: Peter Gray verweist in seinem Buch „Befreit Lernen“ auf eine Studie, die ergab, dass „jede Intervention, die den Anreiz, kreativ zu sein, erhöhen sollte, [dazu] führte, dass Kreativität  beeinträchtigt wurde.“
Und: „Man kann nicht kreativ werden, indem man sich einfach nur sehr, sehr stark bemüht. Kreativität ist ein Funke, der entsteht, wenn die geistigen Voraussetzungen genau richtig sind – und hohe Anreize scheinen diese Voraussetzungen durcheinanderzubringen.“ (P. Gray, 2003, S.117).

Strukturen der Belohnung (dazu zählen auch gute Noten) verhindern somit Kreativität – selbst beim „kreativen Schreiben“.

Umso absurder mutet es an, dass Schüler/innen sogar manchmal in Deutschklausuren kreativ tätig werden und z.B. fiktive Tagebucheinträge oder „innere Monologe“ von Romanfiguren schreiben sollen – in Prüfungen, also in Situationen, in denen es vor allem um Bewertung geht.

Diktatur des Kopfes
Weltweit sind Schulsysteme ähnlich hierarchisiert, was die Fächer angeht, und die allermeisten favorisieren nicht den kreativen, fühlenden Ausdruck, sondern ausschließlich den Kopf: das abstrakte Denkvermögen. Mathe, Deutsch, Chemie und Co. – überall geht es um Analysen, um Rationalität, den kühlen Verstand. Und um die Dichotomie von „richtig“ und „falsch“. Wir plagen junge Menschen mit der Analyse von Gedichten – die doch eigentlich in Worte verpacktes Gefühl sind.

Wie sollen sich in so einem Setting Talente entfalten?

Es ist eine Diktatur des Rationalen, die auch der Psychoanalytiker Arno Gruen beklagt – und als Ausgangspunkt für die verkümmerte Empfindungsfähigkeit unserer Gesellschaft sieht.

Freies Spiel
Was für ein Glück meine Freundin und ich damals hatten mit unseren Nachmittagen nur für uns, wird mir erst heute klar, wo Schule, Hausaufgaben und andere Verpflichtungen immer mehr Raum einnehmen.
Die ernüchternde Bilanz lautet: „Wir haben Kinder in eine abnormale Umgebung gedrängt, in der von ihnen erwartet wird, immer längere Teile ihres Tags unter der Leitung von Erwachsenen zu verbringen, an Tischen sitzend, Dinge hörend und lesend, die sie nicht interessieren, und Fragen beantwortend, die nicht wirklich ihre Fragen sind.“ (P. Gray)

Die Folgen? In meinem Beruf erlebe ich heute schon 12jährige mit Burn-Out, Antriebslosigkeit und Depressionen – wie z.B. Jens, der erst aufblühte, als ich rein zufällig an seiner Talent-Tür klopfte. Die Tatsache, dass jedes zweite Kind in Europa heute chronisch krank ist – bei „größtmöglichem medizinischem Fortschritt“ (M. Hüther) – muss Ursachen haben.

Ganztagsschulen – eine Mogelpackung
Jens ging in eine straff durchgetaktete Ganztagsschule (in Hamburg sind 96% aller Schulen Ganztagsschulen). An diesen Schulen bleibt wenig Zeit für „originelle Ideen von Bedeutung“ – denn bis 16:00 ist der Stundenplan voll (2). Mit so genannten „Wahlpflichtfächern“ wird suggeriert, es gebe doch Raum für die eigenen Interessen und die eigene Entfaltung – doch echte Wahlfreiheit besteht hier keineswegs, sind doch die Inhalte auch dieser Kurse von der Schule vorgegeben.

Dabei brauchen Kinder und Jugendliche für ihr Wohlergehen vor allem eins: Freiheit. Peter Gray hat zu „freiem Spiel“ enorm viel geforscht, und er sagt:
„Ein Mangel an freiem Spiel (…) hemmt die mentale Entwicklung. (…) Freies Spiel ermöglicht es, Freundschaften zu schließen, Ängste zu überwinden, Probleme zu lösen und insgesamt die Kontrolle über das eigene Leben zu übernehmen. (…) Das, was Kinder durch eigene Initiative in freiem Spiel lernen, lässt sich nicht auf andere Weise vermitteln — auch nicht durch ,Qualitätszeit‘ oder besonderen Unterricht.“

Das Worst Case Scenario
Die Ausweitung der Ganztagsschulen, die in vielen Bundesländern gerade eifrig vorangetrieben wird, halte ich vor dem Hintergrund all dieser Erkenntnisse für eine der schlechtesten schulpolitischen Idee überhaupt.

Mit Ganztagsschulen lügen wir uns in die eigene Tasche – denn sie führen die wissenschaftlich erwiesene Tatsache, dass Kinder durch freies Spielen am nachhaltigsten lernen, ad absurdum.

Die deutschlandweite Ausweitung der Ganztags-“Angebote“ (die in Wahrheit kaum mehr Angebote sind), zeigt das allgegenwärtige Misstrauen in die Fähigkeiten junger Menschen und führt in der Konsequenz zu einer flächendeckendenden Talent-Verhinderung.

Die Vorstellung, dass Lehrende in ihren Klassen mit bis zu 30 Kindern und vorgegebenem Lehrplan jede(n) individuell in seinem/ihrem Talent fördern könnten, halte ich aus eigener Erfahrung für nahezu unmöglich. Und so veröden Millionen Talente jedes Schuljahr aus Neue, weil niemand sie entdeckt und es auch gar keine Gelegenheit gibt für ihre Entdeckung.

Wo besteht in Schule ernsthaftes Interesse und Raum für die Lieblingsbeschäftigungen junger Menschen? In der Tat scheint niemand darauf aus zu sein, die damit verbundenen Talente zu entdecken – denn sonst würde man Kindern und Jugendlichen viel mehr Freiraum zugestehen, als sie heute zur Verfügung haben.

Das System der Ganztagsbetreuung – Gift für Talente
Das System der Ganztagsbeschulung tut so, als würde es junge Menschen optimal fördern und „nebenbei“ auch noch den Erwachsenen helfen: Eltern können trotz der Existenz von Kindern Vollzeit berufstätig sein, also Geld verdienen, während der Nachwuchs in der Schule extra Unterricht erhält, um damit noch besser auf das zukünftige Leben und seine Herausforderungen vorbereitet zu sein.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Schulen werden durch den Ganztags-Wahnsinn zu Verwahr-Stationen, die jungen Menschen wichtige persönliche Entwicklungsschritte vorenthalten, welche sie nur durch freie Zeit und freies Spielen machen können. Und dass viele Eltern heute Vollzeit arbeiten, liegt nicht unbedingt daran, dass sie alle so unfassbar gerne arbeiten, sondern auch daran, dass die Lebenserhaltungskosten derart in die Höhe geschnellt sind, dass es kaum mehr anders geht.

Doch es wird suggeriert, dass in der Bevölkerung sogar ein Bedarf an Ganztagsschulen bestehe: „Wie in den Vorjahren wird die steigende gesellschaftliche Bedeutung schulischer Ganztagsangebote in Deutschland hervorgehoben. Als Ursachen dafür werden der hohe Bedarf nach ganztägiger Betreuung zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die durch PISA angeregte Diskussion über die besten Rahmenbedingungen für schulisches Lernen gesehen.“ (www.ganztagsschulen.org)

Die dahinter liegenden gesellschaftlichen Missstände, die viele Menschen verzweifeln lassen an der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, und die absolute Absurdität von Vergleichsstudien wie PISA (dazu mehr in meinem Text „Schädliche Standards“) bleiben häufig außen vor.

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4 Kommentare

  1. Hallo Linda,
    dem gibt es im Grunde nicht mehr viel hinzuzufügen. Genau so ist es! Und genau darum geht es auch in Henning Becks Buch „Irren ist nützlich.“ Das wirkliche Denken im Sinne von gründlich reflektiertem Denken, das lernen wir nicht in der Schule (die Rahmenbedingungen geben es ja auch nicht her). Aber nur das bringt uns wirklich voran, wenn wir Beanstandenswertes – in welchem Zusammenhang/Kontext auch immer – verbessern wollen.

  2. Hallo Linda,

    ich bin gerade auf deinen Blog gestoßen. Der Artikel hier ist großartig! Du sprichst mir aus dem Herzen, auch wenn ich in der Erwachsenenbildung arbeite.

    Ich frage mich die ganze Zeit, warum wir das Schulsystem nicht endlich ändern. Alle Beteiligten sind sich einig, dass unser System einfach in weiten Teilen Mist ist. Alle Beteiligten ächzen und stöhnen. Doch wenn sich etwas ändert, dann meiner Wahrnehmung nach eher in eine ungünstige Richtung. Hast du eine Antwort, warum wir nicht beherzt eingreifen und den Kindern Kind-sein und Enwicklung ermöglichen?

    Viele liebe Grüße

    Axel

    • Lieber Axel, gute Frage… Ich denke, um ein ganzes System zu verändern, braucht es einen gehörigen Ruck, eine Rebellion, die zu einer Revolution führt. Im Moment gibt es viele einzelne „Strohfeuer“, also einzelne Menschen in Aufruhr, die sich nicht mehr mit dem Bisherigen zufrieden geben und neue Wege beschreiten wollen. Leider sitzen diese Menschen nicht in der (Schul-)Politik. Aber wenn wir uns gut vernetzen, können wir auch „von unten“ Neues anstoßen. Die Friday4Future-Bewegung hat es vorgemacht… Herzliche Grüße, Linda

  3. Hallo Axel, deinen Kommentar finde ich gut. Das Problem ist: Auch wenn „alle Beteiligten ächzen und stöhnen“, so sind sich alle Beteiligten dennoch nicht einig darüber, dass es in vielen Fällen „Mist“ ist. Wären sich alle einig, würden sie es bestimmt ändern, so rein von der Logik her. Sie sind sich aber eben gerade nicht einig! Bei der ganzen Geschichte geht es um das Menschenbild, das „man“, bzw. das wir alle zugrunde legen wollen. Da gibt es durchaus freundlichere Alternativen zu dem, was wir haben. Das ist der radikale Wandel, von dem auch Linda spricht. So einfach geht das aber leider nicht. Dazu braucht es sehr viel, um das zu ändern.

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