Fatale Trugschlüsse der Ganztagsbetreuung
Keine Ganztagsschule dieser Welt kann die Zeit des freien Spielens von jungen Menschen ersetzen.

Keine mir bekannte Art von Unterricht – sei es frontal oder kooperativ, sei es problemlösend oder als „Stationenlernen“ organisiert  – vermag das zu vermitteln, was junge Menschen sich gegenseitig beim freien Spielen – ohne das „Zutun“ von Erwachsenen – aneignen.  Und: Es liegt nicht in unserer Macht, Kinder und Jugendliche dazu zu bringen, gemeinsam und voneinander zu lernen, indem wir sie in „heterogenen Lerngruppen“ zusammensetzen, und sie werden keine „kognitiven“ und „sozialen Kompetenzen“ ausbilden, nur weil wir das „Anti-Drogen“ Training noch in die 8.Stunde Politikunterricht gepackt haben. Stattdessen werden rund-um-die-Uhr beschulte Kinder und Jugendliche ihre eigene Kreativität aufgeben – ja später sogar leugnen, je kreativ gewesen zu sein, und nichts von ihren Talenten wissen.

Sie werden Jobs ergreifen, die nichts mit ihnen und ihren eigentlichen Fähigkeiten zu tun haben, und sich mitunter zeitlebend für nicht besonders talentiert halten. Ein fataler Trugschluss, der unsere Gesellschaft noch teuer zu stehen kommen wird.

Gibt es Alternativen?
Ich verstehe, dass Eltern diese düsteren Aussichten in Aufruhr bringen – denn viele sind jobbedingt angewiesen auf eine Ganztagsbetreuung ihrer Kinder.

Dabei gäbe es Möglichkeiten, die wir nur im Moment nicht zu denken wagen. Schulen könnten sich zum Beispiel nachmittags öffnen, wortwörtlich: Kein Unterricht, keine Zwangsbeschulung, sondern offene Türen, so dass die jungen Menschen frei ihrer Wege gehen können. Die Lehrer/innen bleiben im Schulgebäude, sind ansprechbar, haben idealerweise ihre eigenen Büros, in denen sie für sich arbeiten können. Ihre Schüler/innen könnten sie jederzeit aufsuchen, und hätten so die Gewissheit, stets einen sicheren Ort als „Back-Up“ bei Problemen zu haben.

Solchen Modellen steht eigentlich nur eins im Wege: die Ängste der Erwachsenen und das Hinnehmen dessen, was uns weis gemacht wird.
Dabei müssten der Frage, ob man Kinder und Jugendliche alleine „ziehen“ lassen darf, auch in einer Großstadt, ganz andere Fragen vorausgehen:
Wird die Welt bzw. meine Stadt wirklich immer gefährlicher? In welchem Verhältnis steht unser Sicherheitsdenken zu dem Schaden, den Kinder und Jugendliche durch die Vollzeit-Beschulung erleiden? Wo ist eigentlich unser Vertrauen in Kinder und Jugendliche hin?

Warum ist Freiheit für junge Menschen so wichtig?
Das eigene Bestimmen darüber, wie man seine Zeit verbringt, beflügelt. Wenn wir uns Biographien anschauen von „Überfliegern“ wir Elon Musk oder Microsoft-Gründer Bill Gates, dann sehen wir, dass diese Menschen schon als Kinder Freiräume für eigene Interessen hatten. Musk verbrachte viel Zeit in Bibliotheken mit Büchern zu Physik und Informatik, Bill Gates‘ Eltern erlaubten ihrem Sohn schon mit 13, nachts die Universität von Washington zu besuchen, um die Computer dort zu nutzen (der Artikel dazu hier).

Freiheit und Spielen bringen das Beste in jungen Menschen zum Vorschein. „Im Spiel lösen Vierjährige mühelos Logikprobleme, denen sie eigentlich erst ab einem Alter von zehn oder elf Jahren gewachsen sein sollten.“ (P. Gray). Spielen ermöglicht Kreativität, weil es ohne Anreize von außen – also ohne Belohnungen, Bewertungen, Lob und Kritk – auskommt.

Frei gestaltbare Zeit schafft Raum für persönliche Entwicklung und Entfaltung. Ein Experiment mit „schwer erziehbaren“ Jungen aus den USA zeigte, wie diese, nachdem sie vom Unterricht befreit wurden, und man ihnen stattdesssen ermöglichte, sich selbst frei in ihren Interessen weiter zu bilden, sich ungeahnt positiv entwickelten: „They took the worst boys they could find and stopped teaching them in a classroom.” (Artikel auf Englisch in „Psychology today“)

Die Sorge, dass Kinder und Jugendliche, wenn sie allein gelassen werden, nur vor dem TV, Smartphone oder Computer sitzen würden, entspricht nicht der Realität. In einer großangelegten amerikanischen Studie von „Family, Kids and Youth“ (2010), in der Kinder selbst nach ihren Spielvorlieben gefragt wurden, schnitt das Spielen draußen mit Freunden am besten ab, 89% der Kinder sagten, sie würden lieber draußen spielen als fernzusehen.
Dass viele Teenger heute viel Zeit am Computer verbringen, könnte auch daher rühren, dass dies der einzige Ort ist, an dem sie frei und ohne Aufsicht von Erwachsenen spielen können.

Was können wir tun?
Was können Lehrende tun? Einiges. Angefangen bei dem Verzicht auf Hausaufgaben, der größtmöglichen Reduktion von Prüfungen und Tests, sowie dem Credo, niemals Pausen zu kürzen oder gar wegzunehmen, bis zum aktiven Gewähren von Freiheiten, d.h. den größtmöglichen Raum geben für eigene Interessen, Denkweisen von „richtig“ und falsch“ ablegen, Spielen nicht abwerten, Eltern und Kollegen darüber aufklären, wie essentiell freie Zeit für ihr Kind ist.
Freies Spielen ist keine Zeitverschwendung. „Lernen, Kreativität und Problemlösungsfähigkeit werden durch alles gefördert, was einen spielerischen Geisteszustand begünstigt. Und sie werden durch Bewertung, die Erwartung von Belohnung und alles gehemmt, was einen spielerischen Geisteszustand zunichte macht.“ (P. Gray, S.120)

„Life is not linear, it’s organic.“
Solange wir weiterhin in Kategorien wie „richtig“ und “falsch“ denken, und junge Menschen viele Stunden täglich mit Inhalten aus standardisierten Lehrplänen „beschallen“, werden wir Bildung als Modell der Herstellung verstehen: als Industrie.
Die Entwicklung eines Menschen ist jedoch kein industriell-lenkbarer Prozess, sondern ein organischer. Wir können ihn nicht kontrollieren, sondern nur die Bedingungen schaffen für gesundes Wachstum.
Das bedeutet: Wir Lehrende, mich inbegriffen, müssten uns viel offener zeigen für die „Schätze“, die junge Menschen mitbringen – wie das Talent von Jens, Geschichten zu erzählen. Dazu gehört, möglichst viel freien Raum zu geben, in dem junge Menschen das tun können, was sie am liebsten tun.

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(1) Franz Ruppert: „,Um-Welt‘ — bereits dieser Begriff enthält meiner Ansicht nach eine Anmaßung, weil ich mich als Mensch in den Mittelpunkt der ,Welt‘ setze. (…) Wenn ich hingegen von mir und meiner Mit-Welt spreche, wechsle ich immerhin die Perspektive und sehe mich als Teil einer ,Welt‘, die mir das Leben ermöglicht und in der ich umgeben bin von Lebendigem, mit dem ich im Zusammenhang lebe.“ Hier der Artikel dazu.

(2) siehe hierzu auch die 37-Grad Doku „Schüler in der Leistungsfalle“

Foto: pixabay

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4 Kommentare

  1. Hallo Linda,
    dem gibt es im Grunde nicht mehr viel hinzuzufügen. Genau so ist es! Und genau darum geht es auch in Henning Becks Buch „Irren ist nützlich.“ Das wirkliche Denken im Sinne von gründlich reflektiertem Denken, das lernen wir nicht in der Schule (die Rahmenbedingungen geben es ja auch nicht her). Aber nur das bringt uns wirklich voran, wenn wir Beanstandenswertes – in welchem Zusammenhang/Kontext auch immer – verbessern wollen.

  2. Hallo Linda,

    ich bin gerade auf deinen Blog gestoßen. Der Artikel hier ist großartig! Du sprichst mir aus dem Herzen, auch wenn ich in der Erwachsenenbildung arbeite.

    Ich frage mich die ganze Zeit, warum wir das Schulsystem nicht endlich ändern. Alle Beteiligten sind sich einig, dass unser System einfach in weiten Teilen Mist ist. Alle Beteiligten ächzen und stöhnen. Doch wenn sich etwas ändert, dann meiner Wahrnehmung nach eher in eine ungünstige Richtung. Hast du eine Antwort, warum wir nicht beherzt eingreifen und den Kindern Kind-sein und Enwicklung ermöglichen?

    Viele liebe Grüße

    Axel

    • Lieber Axel, gute Frage… Ich denke, um ein ganzes System zu verändern, braucht es einen gehörigen Ruck, eine Rebellion, die zu einer Revolution führt. Im Moment gibt es viele einzelne „Strohfeuer“, also einzelne Menschen in Aufruhr, die sich nicht mehr mit dem Bisherigen zufrieden geben und neue Wege beschreiten wollen. Leider sitzen diese Menschen nicht in der (Schul-)Politik. Aber wenn wir uns gut vernetzen, können wir auch „von unten“ Neues anstoßen. Die Friday4Future-Bewegung hat es vorgemacht… Herzliche Grüße, Linda

  3. Hallo Axel, deinen Kommentar finde ich gut. Das Problem ist: Auch wenn „alle Beteiligten ächzen und stöhnen“, so sind sich alle Beteiligten dennoch nicht einig darüber, dass es in vielen Fällen „Mist“ ist. Wären sich alle einig, würden sie es bestimmt ändern, so rein von der Logik her. Sie sind sich aber eben gerade nicht einig! Bei der ganzen Geschichte geht es um das Menschenbild, das „man“, bzw. das wir alle zugrunde legen wollen. Da gibt es durchaus freundlichere Alternativen zu dem, was wir haben. Das ist der radikale Wandel, von dem auch Linda spricht. So einfach geht das aber leider nicht. Dazu braucht es sehr viel, um das zu ändern.

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