Offene Fragen
Wenn es wirklich darum geht, in Schulen „verantwortliche Staatsbürger“ auszubilden, stellt sich die Frage: Wie soll man sich selbstbestimmt und verantwortlich auf den Weg machen kann, wenn man mindestens neun Jahre zuvor fremdbestimmt durchs Leben gegangen ist? Wie sollen Toleranz und Mitgefühl in einem Individuum reifen, wenn ihm selbst diese nicht entgegengebracht wurden? Verantwortungsgefühl und Charakterstärke lassen sich nicht von oben aufoktroyieren. Dass ein System, das auf Zwang setzt, die ihm Anvertrauten zu Mündigkeit, Respekt und würdevollem Miteinander erziehen will, ist ein Widerspruch in sich. Wie soll ein Mensch sich formen, wenn er sich nicht verweigern darf?

„[…] Persönlichkeit [definiere] ich auch dadurch […], dass man nein sagen kann, dass man sich verweigert, dass man in dieser Weise Haltung beweist.“ Roger Willemsen


Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser!?

Doch nicht nur der Schulzwang, auch die in vielen Schulen allgegenwärtige Bewertung und Kontrolle sind keine Praktiken, die auf Vertrauen und Zugewandtheit fußen. Penibel dokumentieren viele staatliche Schulen jeden Fortschritt und Fehltritt junger Menschen in Klassenbüchern und Rückmeldebögen. In Feedback- und Lernentwicklungsgesprächen werden Persönlichkeiten geformt und dem System Schule passdienlich gemacht. Sogar die Wahl des Klassensprechers und des Schülerrats sind exakt im Schulgesetz (§63 HambSg) vorgegeben. Noten und Zeugnisse zeigen, dass Schulen noch immer auf dem behavioristischen Ansatz „Belohnung und Strafe“ basieren. Doch was bei Hunden funktionieren mag (Strafe erhalten – Verhalten korrigiert, für’s Leben „gelernt“) lässt sich nicht auf uns Menschen übertragen.
Sicher gibt es mittlerweile Schulen, die viele dieser Praktiken entschärft haben oder darauf verzichten. Und doch bleiben unter dem Dekret des Schulzwangs Schüler und Schülerinnen dem Übergriff des Staates ausgeliefert.
Dass unter diesen Umständen überhaupt jemand in der Lage ist, etwas zu lernen, ist ein Verdienst der Lehrer und Lehrerinnen, die trotz aller straffen Vorgaben ihren Schülern Gehör schenken, sie ernst nehmen in ihren Belangen, die authentisch sind und so Vertrauen schaffen.

„Es ist ein Wunder, dass die Neugier die formale Schulbildung überlebt.“ Albert Einstein

Gehorsam ab Schulbeginn
Ich erlebe aber auch Schüler und Schülerinnen, die selbst die Schulpflicht in Deutschland verteidigen. Hier hat das System ganze Arbeit geleistet. Denn wenn ich keine andere Chance habe, als mich anzupassen, dann solidarisiere ich mich irgendwann mit denen, die Gehorsam von mir verlangen. Arno Gruen schreibt hierzu treffend: „Mit dem Gehorsam geben wir unsere eigenen Gefühle und Wahrnehmungen auf. Wird ein Mensch im Lauf seiner Identitätsentwicklung einmal dazu gezwungen, verläuft seine Entwicklung nach völlig anderen Regeln […]: Das Festklammern an der Autorität wird dann zu einem Lebensgrundsatz. Obwohl man die Autorität hasst, identifiziert man sich doch mit ihr. Man kann gar nicht anders.“ (Wider den Gehorsam 2014)

Ohne Schulzwang
In Ländern wie Österreich, Frankreich und Dänemark ist es kein Problem, wenn junge Menschen der Schule fernbleiben und zum Beispiel zuhause unterrichtet werden oder frei lernen wollen. Viele dieser Freilerner haben bestimmte Begabungen für sich entdeckt, und den meisten ist schon früh klar, was sie gut können, wo ihre Potentiale liegen und was ihnen Freude bereitet – sie vernetzen sich früh mit Gleichgesinnten, und die Wahl eines Berufs fällt ihnen später leicht.
Die deutsche Schulpflicht birgt also auch die Gefahr, dass Potentiale verloren gehen bzw. nie zur Geltung kommen, da sie irgendwo zwischen Religion und Mathe, vielen Jahren Schuldruck und Angepasstsein abhanden gekommen sind.

„Wir haben es hier mit einer grausamen Ironie zu tun: Im Namen der Bildung haben wir Kinder zunehmend der Zeit und Freiheit beraubt, die sie brauchen, um sich auf ihre ureigene Weise selbst zu bilden.“ Peter Gray

Autonomie?!
In fast jedem Schulcurriculum deutscher Bundesländer heißt es, Schüler/innen sollen „Freude am Lernen“ und ein Interesse am eigenen Lernfortschritt entwickeln. Doch wie soll Freude und Interesse da sein, wenn Lernen Pflicht ist? Die „Lernzuwächse“ sind nicht freiwillig erworben, werden dazu permanent und ungefragt bewertet – „das ist, als würde man ohne sein Einverständnis zu einem Wettbewerb angemeldet und dann auch noch für sein schlechtes Abschneiden kritisiert“ (Simon M.Hoffmann, Demokratische Stimme der Jugend ).

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5 Kommentare

  1. Es macht mich jedes Mal traurig zu sehen, wie lern- und wissbegierige Kinder sich auf die Einschulung freuen und nach kurzer Zeit absolut enttäuscht sind, weil Schule am Ende eine Mischung aus Langeweilig, Pflicht und Angst (Pfüfung / Stress / Strafe) ist. Dieses System ist so überaltert und kaputt reformiert. Schule muss definitiv neu gedacht werden! Danke, dass du dich dafür einsetzt.

  2. […] „Warum nicht jeder junge Mensch an fünf Tagen die Woche in der Schule sein möchte, dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Einer mag sein, sich gegen das schlechte Gefühl zu wehren, das Zwang und Anpassungsdruck in den meisten Menschen auslösen. Denn wenn ich zu etwas gezwungen werde, werde ich nicht gefragt und meine Bedürfnisse nicht gesehen. Sich dem zu verweigern kann also eine ganz gesunde Reaktion sein.“ (Linda 2018) […]

  3. […] „Warum nicht jeder junge Mensch an fünf Tagen die Woche in der Schule sein möchte, dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Einer mag sein, sich gegen das schlechte Gefühl zu wehren, das Zwang und Anpassungsdruck in den meisten Menschen auslösen. Denn wenn ich zu etwas gezwungen werde, werde ich nicht gefragt und meine Bedürfnisse nicht gesehen. Sich dem zu verweigern kann also eine ganz gesunde Reaktion sein.“ (Linda 2018) […]

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