Astrid Lindgrens Appell „Niemals Gewalt!“ ist 40 Jahre später noch immer aktuell – und gilt besonders für Schulen. Schulen als Orte, an denen Gewalt stattfindet? Sind diese Zeiten nicht längst vorbei? Leider nein – auch, wenn sich die Formen und die Sichtbarkeit von Gewalt verändert haben.


1992 wurde ich eingeschult, an einer kleiner Grundschule eines Dorfes im Emsland. Unsere Klassenlehrerin, ein erfahrenes Urgestein, alt eingesessen und bekannt im Ort, sorgte für meine erste prägende Erinnerung an Schule: Vorne im Klassenraum mussten sich ein paar Jungen, die uns Mädchen in der Pause geärgert hatten, in einer Reihe aufstellen, und dann gab sie jedem von ihm eine Ohrfeige. Ich sehe noch die rot-verweinten Gesichter vor mir und das beklemmende Gefühl, das mich in der Situation ergriff. Mir taten die Jungen plötzlich leid. Doch auch der Leiter der Schule vertrat die Anschauung „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Er zog regelmäßig Schüler an den Ohren über die Schulflure. Auch für seine plötzlichen Griffe in den Nacken war er bekannt.

Gewalt an Schulen
Sowohl mein Schulleiter als auch die Klassenlehrerin hätten aus heutiger Sicht eine Anzeige wegen Körperverletzung verdient. Gewalt in der Erziehung ist zwar erst seit dem Jahr 2000 gesetzlich verboten (Bürgerliches Gesetzbuch §1631, Absatz 2) – sie war jedoch schon immer falsch und ihre Folgen fatal.

Dabei mag es tatsächlich so aussehen, dass sich Kinder durch eine „harte Hand“ besser fügen und weniger „Ärger“ machen. Doch Menschen, die als Kind Gewalt erfahren haben, werden sich unweigerlich selbst irgendwann gewaltvoll ihrer Umwelt gegenüber verhalten. Und wenn diese Menschen in machtvolle Positionen geraten, hat das schlimme Konsequenzen.

Heute ist es weniger offenkundig-körperliche Gewalt als verdeckt-psychische, die Kinder und Jugendliche an Schulen erfahren. Dabei können verdeckte Gewaltmechanismen wie Ausgrenzung, Drohungen und Machthierarchien „ähnliche, manchmal sogar schwerwiegendere psychische Folgen für eine Person haben als körperliche Gewalt“ (1).

Was macht Gewalt mit uns?
Egal, von welcher Art die Gewalt ist – unsere Psyche trägt den größten Schaden davon. In dem Moment, wo wir Gewalt erfahren, fühlen wir uns ausgeliefert, ohnmächtig und schutzlos – Gefühle, die (besonders für kleine) Menschen unaushaltbar sind.

Aus Schutz- und Überlebensgründen verdrängt die Psyche diese Gefühle daher kurzerhand aus dem Bewusstsein – je unaushaltbarer das Gefühl, desto mehr wird es abgespalten. Das hat allerdings zur Folge, dass jegliche Erinnerung an diese Gefühle zur Gefahr wird. Das eigene Opfersein und die eigene Schwäche dürfen von jetzt an nicht mehr gefühlt werden, sonst kommt es zum psychischen Break-Down (2).

Dies wiederum hat jedoch den Preis, dass Betroffene jegliche Opfererfahrungen leugnen und „lieber“ selbst zum (Mit-)Täter werden, als Schwäche zu zeigen. Die Geschichte von Arno Gruen (3), dessen Lehrerin am 1.Schultag ihre Schüler fragt, wer einen neuen Schlagstock für sie kaufen gehe, und sich daraufhin alle Schüler der Klasse melden, illustriert diese Absurdität: Den Schülern scheint es besser, Mit-Täter zu sein, als eventuell selbst zum Opfer zu werden.

Das bedeutet: Wenn erfahrene Gewalt nicht reflektiert und wieder ins Bewusstsein geholt wird, dann werden aus Opfern irgendwann Täter. Ich vermute, dass meine Klassenlehrerin und mein Schulleiter beide selbst Gewalt in ihrer Kindheit und Schulzeit erfahren haben. Beide wurden in den 1940er Jahren in Deutschland geboren und gaben an uns weiter, was ihnen selbst widerfahren war. So schließt sich der Kreislauf der Gewalt. Es ist nämlich so, „dass Gewalt immer nur wieder Gewalt erzeugt – so wie es von jeher gewesen ist“ (Astrid Lindgren, „Niemals Gewalt!) (4).

Lehrer/innen als Täter
Auch ich, die ich erst in den 80ern geboren wurde, und in meiner Studien- und Referendarzeit allerlei pädagogisches Werkzeug an die Hand bekam, bin bereits zur Täterin im Klassenzimmer geworden: Kurz nach dem Examen bekam ich eine so genannte „Problemklasse“ – zuvor wurde ich schon von Kollegen vor dieser „schlimmen Horrorklasse“ gewarnt. Nach anfänglichen Versuchen, zugewandt-nett mit den Teenagern umzugehen, geschah es: Ich wurde von einigen Schülern derart getriggert, dass ich die Fassung verlor, laut wurde, einzelne Schüler bestrafte mit extra Aufgaben, Rausschicken, Nachsitzen und schlechten Noten. Bei einem Mobbing-Vorfall, bei dem Schüler meiner Klasse ein Mädchen der Parallelklasse beleidigten, geriet ich so in Rage, dass ich nicht mehr klar meine Schüler und ihre Beweggründe sehen konnte und einzig ihre Maßregelung im Sinn hatte.

Was war nur mit mir los? Die Klasse brachte mich an meine persönlichen Grenzen, und dass ich nicht die Ruhe bewahren konnte, lag zu einem großen Teil daran, dass ich enorme Angst hatte, Schwäche zu fühlen und zum Opfer zu werden. Mit allen Mitteln wollte ich mich behaupten und die „Chefin“ der Klasse bleiben – Angst spielte eine große Rolle, und diese Angst musste ich mit allen Mitteln überspielen: durch Strafen, Lautwerden, mich groß machen und Schüler in die Schranken weisen.

Dass dies so war, und dass meine Angst eine konkrete Ursache hatte – denn ich bin selbst als Kind und Jugendliche Opfer von Gewalt geworden – kann ich erst heute sehen und als Wahrheit zulassen. Und erst heute, nach der schmerzhaften Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit, öffnet sich mein Blick für die Schüler meiner ehemaligen Klasse: Ich sehe sie nicht mehr als Täter, sondern als Jugendliche in Not, die einen verantwortungsvollen Erwachsenen als Begleitung und Orientierung gebraucht hätten, um sich ihres eigenes Verhaltens bewusst zu werden.

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3 Kommentare

  1. Oh ich feier gerade hier auf deinen Blog gestoßen zu sein. Unerzogen in der Familie leben wir jetzt schon so lange und ich versuche diese Haltung gerade in meinen Schulalltag mit zu nehmen und wie das aussehen kann in diesem System erschloss sich mir an vielen Stellen noch nicht. Deine Seite ist für mich gerade der Denkanstoß schlechthin. Vieles habe ich schon genau so umgesetzt, anderes ändere ich jetzt noch. Ich danke dir von Herzen.

  2. Liebe Linda,
    vielen Dank für Deinen Artikel! Wie wahr! Ich kann, aktuell als Mutter einer 16-jährigen Tochter, die in ihrer Schulzeit öfter mit „Lehrer-Tätern“ in der Schule konfrontiert ist, und als Therapeutin, die überzeugt nach Franz Ruppert Methode arbeitet, den Inhalt deines Artikels nur bejahen! Ich werde ihn weiterleiten!
    LG Charlotte

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