Isolation und Ausgrenzung
Isolationshaft ist ein viel benutztes Beispiel für psychisch ausgeübte Gewalt und Folter (6). Auch Schüler/innen erfahren an Schulen systematisch Isolation bzw. Ausgrenzung: Störende, laute Unterrichtsteilnehmer werden vor die Tür oder in einen „Reflektionsraum“ geschickt und so von der Klasse (und ihren Freunden) auf bestimmte Zeit getrennt; manchmal werden sogar einzelne Schüler/innen aus bestimmten Gründen von Klassenfahrten ausgeschlossen. Was dies in den betroffenen jungen Menschen auslöst, ist nach außen hin meist nicht sichtbar, lässt sich aber anhand spontaner Emotionen wie Wut, Frustration oder auch totaler Gleichgültigkeit erahnen.

Privatsphäre und Scham
Ein eigenes Beispiel mag die verheerende Wirkung von Scham und Beschämung verdeutlichen:
In einer Physikstunde schrieb ich einmal einen Brief an meine beste Freundin – mir schien das eine gute Idee, denn der Unterricht war langweilig und ich verstand nur Bahnhof. Mein Physiklehrer Herr Schmidt* sah das anders, er bekam meine Eigentätigkeit mit und rief mich an die Tafel, um dort eine Aufgabe zu lösen. Währenddessen ging Herr Schmidt zu meinem Tisch, setzte sich auf meinen Stuhl und las sich meinen soeben verfassten Brief durch, ja, er schrieb sogar einen eigenen Kommentar darunter. Ich war außer mir: Was für eine Einmischung in mein Privatleben! Ein willkürlicher Eingriff in mein Innerstes – denn natürlich erzählt man seiner besten Freundin nur Vertrauliches.

Ich schämte mich sehr und fühlte mich richtig elend, zuhause angekommen verbrannte ich den Brief auf dem Balkon. Heute weiß ich: Scham ist eines der schlimmsten, schwer erträglichsten Gefühle überhaupt (7). Man schämt sich „in Grund und Boden“, man will sich auslöschen, verschwinden, nicht mehr da sein – und richtet so die erfahrene Gewalt gegen sich selbst. Das Verdrehte: Nicht ich hätte mich schämen müssen, sondern Herr Schmidt, der seine Macht missbrauchte, um mir eine „Lehre“ zu erteilen.

Lernen ohne Liebe?
Ob in all diesen Situationen etwas gelernt wird, und wenn ja, was, drängt sich als Frage auf.
Ein gesundes Lehrer-Schüler-Verhältnis basiert grundlegend auf Kooperation und Vertrauen. „Überall lernt man nur von dem, den man liebt“ sagte schon Goethe.
Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich jede der bislang beschriebenen Situationen als das Gegenteil von liebevollem Umgang und konstruktiver Gemeinschaft. Was kennzeichnet gesunde Beziehungen? Sie „(…) beginnen mit der jeweiligen Wertschätzung des anderen, seiner Fähigkeiten, Interessen und Leistungen. Unterschiedliche Kompetenzen werden nicht dazu verwendet, Oben-Unten-Verhältnisse zu schaffen (…).“ (F. Ruppert, „Symbiose und Autonomie“).

Ursachenforschung
Auf Platz 1 der Ursachen für Gewalt im Unterricht sehe ich Überforderung. Bei bis zu 30 Kindern bzw. Jugendlichen ist es ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen, hier nicht zu Erziehung und gewaltvollen Mitteln zu greifen. Zudem ist die Arbeitsbelastung, unter der viele Lehrer und Lehrerinnen stehen, immens – ich spreche hier aus eigener Erfahrung und habe mit den unterschiedlichsten Lehrkräften Kontakt. 60 Stunden in der Woche sind normal, in korrekturintensiven Zeiten kann es auch mal mehr werden.

Neben diesen äußeren Faktoren kommt die unzureichende Vorbereitung hinzu: Ich habe in meinem Studium rein inhaltlichen Input erhalten, um Auseinandersetzung mit sich selbst, der eigenen Geschichte oder dem eigenen Bild von Kindern ging es nie, genauso wenig wie um Fragen, wie Schule generell gestaltet werden könnte. Dabei ist der Schulalltag prädestiniert für Trigger, die einen an die eigene Kindheit und Schulzeit erinnern — eigenes erlebtes Leid ploppt hoch, die Psyche gerät in Stress.

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3 Kommentare

  1. Oh ich feier gerade hier auf deinen Blog gestoßen zu sein. Unerzogen in der Familie leben wir jetzt schon so lange und ich versuche diese Haltung gerade in meinen Schulalltag mit zu nehmen und wie das aussehen kann in diesem System erschloss sich mir an vielen Stellen noch nicht. Deine Seite ist für mich gerade der Denkanstoß schlechthin. Vieles habe ich schon genau so umgesetzt, anderes ändere ich jetzt noch. Ich danke dir von Herzen.

  2. Liebe Linda,
    vielen Dank für Deinen Artikel! Wie wahr! Ich kann, aktuell als Mutter einer 16-jährigen Tochter, die in ihrer Schulzeit öfter mit „Lehrer-Tätern“ in der Schule konfrontiert ist, und als Therapeutin, die überzeugt nach Franz Ruppert Methode arbeitet, den Inhalt deines Artikels nur bejahen! Ich werde ihn weiterleiten!
    LG Charlotte

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