Früher Opfer – heute Täter
Die Grundlage, damit wir gesund und im Mitgefühl mit anderen schulisch arbeiten können, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und den eigenen Überlebensstrategien. Nur wer mit sich selbst mitfühlen kann, kann mit anderen mitfühlen.
Menschen, die eigene Opfererfahrungen nicht verarbeitet haben, werden leicht zum Täter. Wer sich des eigenen Opferseins nicht bewusst ist, macht sich unbewusst zum Wiederholer dessen, was ihm/ihr widerfahren ist.
Fast jeder Gewaltverbrecher ist als Kind selbst Opfer von Gewalt geworden. Pädagogen und Sozialarbeiter, die mit Menschen in Gefängnissen arbeiten, berichten mir, dass keiner der Sträflinge eine sichere Bindung und ein Aufwachsen in Liebe und Geborgenheit erfahren hat.
Lehrer sind auch „nur“ Menschen. Herr Schmidt hatte eine für uns alle sichtbare, starke Sehbehinderung – ich kann mir gut vorstellen, dass er selbst in jungen Jahren gehänselt und ausgegrenzt wurde. Erlebtes Opfersein ist der Nährboden für späteres Tätersein: Vom Gefühl der Machtlosigkeit zum Machtmissbrauch sind es nur wenige Schritte. Und wenn ich mir das bewusst mache, kommt sogar Mitgefühl mit Herrn Schmidt in mir auf.
Ein gewaltvolles System – der Ausstieg ist möglich
Damit Schule ein gewaltfreier Ort konstruktiver Begegnungen wird, braucht es ein radikales Umdenken: Weg von Noten, Fehlerfokus und Schulzwang – hin zu bedingungsloser Akzeptanz eines jeden – unabhängig von Persönlichkeit und Begabungen.
Wir Lehrer und Lehrerinnen haben als Erwachsene natürlicherweise mehr Macht als Kinder und Jugendliche – lasst uns mit dieser Macht sorgsam umgehen!
Autorin und Schulgründerin Aida S. de Rodriguez sagt: „Erziehung ist Gewalt.“ (8) Und es stimmt. Denn da, wo wir anfangen, Methoden anzuwenden, um junge Menschen (und uns selbst) „in Schach“ zu halten, hört liebevolle Begleitung auf, da fängt Manipulation und Abwertung an.
Wenn Lehrer/innen diesen sorgsamen Umgang selbst nicht erfahren haben, wird’s schwer für die ihnen Anvertrauten – daher appelliere ich: Schaut auf eure eigene Geschichte. Nur dann gelingt der Ausstieg aus der Täter-Opfer-Dynamik, nur dann können wir aufhören, zu werten, zu strafen und zu belohnen. Denn egal, was ein kleiner Mensch getan hat – den Einsatz von Gewalt kann das niemals rechtfertigen.
Quellen:
(1) http://lexikon.stangl.eu/3018/gewalt/
(2) vgl. F. Ruppert „Symbiose und Autonomie“ (2011); „Mein Körper, mein Trauma, mein Ich“ (2017)
(3) A. Gruen „Wider den Gehorsam“ (2014)
(4) A. Lindgren „Niemals Gewalt!“, abgerufen über efraimstochter.de (20.12.2018)
(5) F. Ruppert: „Wer bin Ich in einer traumatisierten Gesellschaft?“ (2018)
(6) www.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/gewalt/index.html
(7) Vortrag von Dami Charf über https://www.youtube.com/watch?reload=9&v=3BVM9pQPoAE
(8) www.elternmorphose.de; Apego Schule Berlin über www.apego-schule.de
Foto: pixabay (Cold Stivers)
Oh ich feier gerade hier auf deinen Blog gestoßen zu sein. Unerzogen in der Familie leben wir jetzt schon so lange und ich versuche diese Haltung gerade in meinen Schulalltag mit zu nehmen und wie das aussehen kann in diesem System erschloss sich mir an vielen Stellen noch nicht. Deine Seite ist für mich gerade der Denkanstoß schlechthin. Vieles habe ich schon genau so umgesetzt, anderes ändere ich jetzt noch. Ich danke dir von Herzen.
Liebe Linda,
vielen Dank für Deinen Artikel! Wie wahr! Ich kann, aktuell als Mutter einer 16-jährigen Tochter, die in ihrer Schulzeit öfter mit „Lehrer-Tätern“ in der Schule konfrontiert ist, und als Therapeutin, die überzeugt nach Franz Ruppert Methode arbeitet, den Inhalt deines Artikels nur bejahen! Ich werde ihn weiterleiten!
LG Charlotte
Liebe Charlotte, entschuldige meine späte Reaktion, vielen Dank für dein Feedback, und ja, gerne teilen! Viele Grüße, Linda