Schutzfunktion?
Leider ist die Schulpflicht auch kein Garant dafür, dass Kinder geschützt werden. Bei 25 bis 30 Schülern pro Klasse ist es meiner Erfahrung nach schlicht unmöglich, mitzubekommen, was bei den mir Anvertrauten zuhause wirklich abgeht. Ob sie z.B. häusliche Gewalt erfahren. Die schlichte Gebäude-Anwesenheit von Menschen heißt nicht, dass wir sie schützen.
Was tun, wenn jemand von Anfang an und gar nicht in die Schule kommt? Nachhaken, hingucken. Was sind die Gründe? Ist es Vernachlässigung? Ist es eine selbstbestimmte Entscheidung? Bußgelder und Strafen helfen niemandem wirklich – am wenigsten dem jungen Menschen, um den es ja in dem Moment geht.
Realität
Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ohne Schulpflicht wäre. Ich weiß nur: Solange wir alle, die nicht in die Schule gehen, über einen Kamm scheren, bringt das niemanden weiter. Menschen haben unterschiedliche Gründe, warum sie nicht in die Schule gehen. Genauso unterschiedlich und flexibel sollte ein Gesetz geschnitten sein.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Staat geht ausnahmslos von der Situation aus, dass es die Eltern sind, die zur Verantwortung gezogen werden müssen und die der Grund dafür sind, wenn ein Kind nicht in die Schule geht. Die Einführung der Schulpflicht ist über 100 Jahre her – damals wollte man die Landkinder von den Feldern auf die Schulbänke bringen.
Für den Fall, dass ein junger Mensch selbst aus freien Stücken entscheidet, nicht zur Schule gehen zu wollen – dafür ist das Gesetz kaum ausgelegt.
Zwang und Begeisterung – ein Paradoxon
Dabei liegt das Absurde auf der Hand: Unter Zwang lernt es sich schlecht. „Mit dem Gehorsam geben wir unsere eigenen Gefühle und Wahrnehmungen auf,“ sagt Arno Gruen. Wir verleugnen uns selbst.
Dabei sind „das eigene“ , eigene Gefühle und Wahrnehmungen, DAS wichtigste, wenn wir lernen: Schon 2011 subsumierte der Neurobiologe Gerald Hüther in „Was wir sind und was wir sein könnten“:
„Wenn man sich so richtig für etwas begeistert, wenn es einem unter die Haut geht (…) wird im Mittelhirn eine Gruppe von Nervenzellen erregt. Die schütten dann an den Enden ihrer langen Fortsätze einen Cocktail neuroplasmatischer Botenstoffe aus. Zum Leidwesen aller Pflichterfüller (…) passiert das nie im Routinebetrieb des Gehirns, (…), sondern nur in diesem wunderbaren Zustand der Begeisterung.“
Keine All-round-Lösung
Ich behaupte daher: Die Schulpflicht ist kein Mittel gegen Vernachlässigung. Sie ist eine Form von Vernachlässigung.
Sie vernachlässigt, dass wir uns wirklich mit jungen Menschen und dem, wer sie sind, was sie brauchen, was sie begeistert und was sie lernen wollen, beschäftigen. Sie verhindert, dass das System Schule sich endlich weiterentwickelt – denn sie liefert ihr weiterhin „Kunden“, die in Wahrheit Sklaven sind.
Wenn wir sagen „Ihr müsst in die Schule!“, dann sorgen wir zwar dafür, dass eine Pflicht erfüllt wird. Aber wir entziehen uns unserer eigentlichen Pflicht: Uns mit dem jungen Menschen, der da vor uns sitzt, wirklich auseinanderzusetzen.
Möchte dieser junge Mensch in die Schule? Wenn ja, wie können wir ihm dabei helfen, dass er dahin gehen kann? Möchte dieser Mensch nicht in die Schule? Wie können wir ihm helfen, dass er sich auch ohne Schule bilden kann?
Das sollten die Fragen sein. Doch die zweite Frage ist per se unmöglich – jedenfalls heute (noch) in Deutschland.
Zwang ist keine Lösung
Der häufigste Grund für Schulverweigerung junger Menschen ist meiner Meinung nach dieser: Das mangelnde Interesse ihres Umfelds an ihnen selbst. Deswegen werden viele (nach innen oder außen) aggressiv und blocken alles ab, was da an neuen Zwängen und Objekt-Macherei an sie herangetragen wird.
Denn nichts anderes tun wir durch die Schulpflicht: Wir machen junge Menschen zum Objekt eines Zwangs, von dem wir meinen, dass er gut und richtig ist, weil er Schlimmeres verhindert.
Aber Zwang kann nie die Antwort sein. Ein „MÜSSEN“ kann nie die Lösung sein, wenn wir mit Menschen konstruktiv zusammenarbeiten wollen.
Ja, Kinder und Jugendliche brauchen mehr Orientierung und auch Führung als wir Erwachsenen. Ihnen fehlen noch Erfahrungen. Das heißt aber nicht, dass sie kein Bedürfnis haben, über sich selbst zu bestimmen und für sich selbst Entscheidungen zu treffen.
Kinder und Jugendliche zu diskriminieren nur aufgrund ihres Alters und ihrer Abhängigkeit, ist genau so schlimm wie jede andere Form der Diskriminierung.
Für Fehlstunden und Schulabwesenheit gibt es Gründe. Die erfährt man nur in einem Gespräch, das optimalerweise nicht mit einem „müssen“ beginnt.
Liebe Linda,
(…)…DANKESCHÖN! für diesen Text!
(…) Deine Worte haben gerade etwas Leichtigkeit gebracht in einer verzweifelten Zeit.
Lieben Gruß
E.
[Kommentartext wurde in Absprache mit Verfasserin gekürzt]
Super interessant
Danke für diesen Blickwinkel. Eins möchte ich noch einwerfen: ich wohne in der Türkei. Hier wurden 12 Jahre Schulpflicht vor ein paar Jahren eingeführt, damit jeder die Chance hat, zu studieren. Das wiederum musste sein, weil es leider viele Eltern gab, die vorallem Mädchen schnell aus der Schule nahmen, damit sie zuhause den Haushalt machen konnten oder fix verheiratet wurden. Heute gibt es leider immer noch genügend Eltern, in den traditionelleren Gegenden, die ihre Mädchen am liebsten nicht in die Schule schicken wollen würden, aber auch Jungs.
Ich denke, in Deutschland gibt es auch ein paar Eltern, welche ihre Kinder nicht schicken würden, wenn es keine Pflicht wäre, sie jedoch daheim auch nicht ausbilden würden. Z.b. Eltern, die gewalttätig oder streng religiös sind, Sekten angehören… für ihre Kinder ist Schule sicher eine Art Zufluchtsort. Wie könnten wir sie schützen, wenn die SchulPflicht ausfiele?
Ansonsten sehe ich es auch so, dass das Fehlen nicht bestraft werden sollte. Ich hatte Gallenkoliken und sehr oft magenschmerzen. Die Lehrer betitelten nich als Mimose. Ich hätte mir Verständnis gewünscht und interessierte Gespräche. Aber wir waren wohl zu viele.
Vielen Dank für Ihren Einwand, den ich gut nachvollziehen bzw verstehen kann. Wenn Eltern ihre Kinder willkürlich von Bildungsorten fernhalten, dann ist das schlimm. Denn jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung! Es verstößt gegen das Grundgesetz, wenn Eltern ihren Kindern nicht die Freiräume gestatten, die sie für ihre freie Entfaltung brauchen. Eltern dürfen ihren Kindern Bildung nicht verweigern, diese Verpflichtung muss bestehen bleiben. Hierbei geht es auch um das Kindeswohl und das ist gesetzlich geregelt. Wenn junge Menschen von ihren Eltern völlig vernachlässigt werden, dann ist für diese die Schule tatsächlich ein Rettungsanker. Doch wie furchtbar ist es eigentlich in einer Gesellschaft zu leben, die solche Argumente braucht, um die Schulpflicht aufrecht zu erhalten?
Ich denke, ein erster guter Schritt könnte sein, wenn die Gebäudeanwesenheitspflicht für die Eltern aufgehoben wird, deren Kinder ein klares NEIN zur Schule haben und das nicht von den Eltern kommt. Wenn wir als Gesellschaft uns weiterentwickeln, mit mehr Empathie und mehr Sinn für Gemeinschaft zusammen leben wollen, es ganz viele Lernorte gibt, an denen junge Menschen sich treffen, dann haben auch die jungen Menschen eine Chance, die von ihren Eltern nicht unterstützt werden, weil dafür andere Menschen einspringen. Herzliche Grüße! Linda
Vielen Dank für diese tollen Worte!
Ich bin Heipraktikerin für Psychotherapie und habe mich auf Kinder und Jugendliche mit Angst Panikattacken sowie Schulunlust spezialisiert.
Viele Kids besuchen aufgrund ihrer Ängste oft kaum oder gar nicht mehr die Schule.
Die einen gehen aufgrund ihrer Ängste nicht mehr, die anderen weil sie Angst vor der Schule haben.
Das größte Problem während unserer Behandlung ist der Druck von aussen.
Eltern die zu uns kommen haben in der Regel schon alles probiert..
Da steht dann meist die angeratene Einweisung in die Klinik an.
Ich wünsche mir schon lange, dass gerade in solchen Fällen alternativen geschaffen werden.
Es gibt immer einen Grund warum die Kids nicht in die Schule gehen…dies gilt es herauszufinden um dann gegebenenfalls andere Alternativen zu bieten..
Ich beobachte das es vielen meiner Klienten in Zeiten von Corona richtig gut geht.
Alleine das sollte Anlass genug sein um diesen und auch Kindern mit Schulunlust andere Alternativen zu bieten.
Denn wie Sie es so schön formuliert haben:
Wirkliches lernen passiert nur im Zustand der Begeisterung.
Gerne würde ich mich mit Ihnen austauschen denn ich bin ebenfalls der Meinung das sich dringend etwas in unserem Schulsystem verändern darf.
Herzliche Grüße
Astrid El-Hagge
Ich bin spät, da leider erst heute auf den Beitrag gestoßen und kann vielem nur zustimmen.
Als Leiter einer Jugendeinrichtung mit handwerklichem Schwerpunk ist mir aufgefallen, daß den Entscheider*innen in unserem Schulsystem meist die Vielfältigkeit an Erfahrungsräumen fehlt um die Wichtigkeit von vielfältigen eigen Erfahrungsräumen für heranwachsende junge Menschen überhaupt beurteilen zu können. Das Ergebnis ist die zunehmende Einschränkung der Entscheidungsfähigkeit auch bei jungen Menschen. Das Leben besteht zum Großteil aus Entscheidungssituationen. Wenn wir nicht lernen uns im Rahmen von Eigenerfahrungen eine Entscheidungsgrundlage für unsere Handeln zu anzueignen, werden wir eine der herausragendsten Fähigkeiten des Menschseins verlieren. Die Möglichkeit, alle Erfahrungen die ein Mensch machen kann in Bezug zueinander zusetzen und daraus eine Handlungsfähigkeit in der eigenen Entwicklung abzuleiten. In handwerklichen Projekten gelingt es mir zunehmend theoretisches Schulwissen in eigene Erfahrung zu verwandeln und den Kindern neue Horizonte zu eröffnen.
Es braucht neue Schul- und Lernformen, besser jetzt als später.
Gruß
Mathias Link
Amen! Lieber Mathias Link, danke für diesen Kommentar. Das, was Sie schreiben, macht für mich total Sinn und das kann ich nur (auch aus eigener Erfahrung mit jungen Menschen) unterschreiben.
Und: Ich habe mir gerade die Fliegerwerkstatt Berlin angesehen! Das ist ja ein phänomenales Projekt! Ich finde es schlichtweg großartig. Toll, dass Sie sich so für junge Menschen engagieren.
Hier las ich auch Ihr Statement: „Es gibt niemanden, der nichts kann. Oft sind Talente einfach nur unentdeckt.“ Ohja.
Danke und viele Grüße, Linda