Nun geht es darum, warum Schüler/innen manchmal selber Strafen einfordern, warum Belohnungen genauso bescheuert sind wie Strafen, und warum Bestrafen immer einen Beziehungsabbruch bedeutet – wie harmlos die Strafe auch aussehen mag. (Teil I zum Thema Strafen findest du hier)

Warum sogar Schüler Strafen fordern
„Schicken Sie den Tim doch einfach raus!“, „Sie müssen strenger mit uns sein!“, „Bestrafen Sie uns, sonst klappt das nicht!“
Dies alles haben Schüler und Schülerinnen schon von mir verlangt.

Doch trotz der Vehemenz dieser Schülerrufe glaube ich nicht, dass junge Menschen wirklich bestraft werden wollen. Welcher psychisch gesunde Mensch möchte, dass ihn jemand anders bestraft? Was steckt also hinter dieser Forderung?

Der Ruf nach Strafen von Schülerseite kommt meist dann, wenn es in einer Klasse allzu laut ist, ein rauer Ton herrscht, oder es drunter und drüber zugeht. Die „Lösung“ von Schüler/innen in derart stressigen Situationen ist häufig Bestrafung. Warum? Weil dies die einzige „Lösung“ ist, die sie bisher kennengelernt haben.  Bestrafen erscheint ihnen als der einzige Ausweg aus der Misere.

Schon in Klasse eins arbeiten wir Lehrkräfte meistens mit Strafen, und zwar weil wir in der eigenen Kindheit oder spätestens im Referendariat gelernt haben, dass das so geht. Doch das hat zur Folge, dass unsere Schüler/innen selber irgendwann Strafen einfordern: Wir haben es ihnen vorgemacht.

In Wirklichkeit geht es bei dem Ruf nach Strafen aber um Bedürfnisse: nach Ruhe, wenn es zu laut ist, oder nach Sicherheit, wenn es zu wuselig ist, nach Ordnung und Orientierung, wenn alles durcheinander geht, etc.  Diese Bedürfnisse können durch Strafen nicht wirklich gestillt werden. Im Gegenteil: Das Vorhandensein von Strafen erzeugt normalerweise eine Stimmung der Angst. Junge Menschen befinden sich hier also in einem Dilemma. Lehrkräfte, die mit Strafen aufgewachsen sind, auch.

System der Angst
Häufig habe ich auch schon den Wunsch nach einer gleichen Behandlung für alle gehört: „Wenn der Tim so laut ist, dann hat der gegen Regel XY verstoßen und dann muss der bestraft werden!“ Und die Empörung, wenn Tim nicht bestraft wird.

Auch hier geht es letzten Endes aber um die eigene Sicherheit: Regeln und die Sanktion bei einem Regelverstoß bringen vermeintlich Sicherheit und Berechenbarkeit – denn dann weiß man zumindest, was einen selber erwartet und wie das Spiel „läuft“. Und man hat in einer ohnmächtigen Situation zumindest irgendetwas in der Hand. Ich erinnere an Arno Gruen und die Geschichte mit dem Rohrstock.

Das Bedürfnis nach Sicherheit
Wann fühle ich mich sicher und gut aufgehoben? Wenn ich mich wirklich gesehen fühle – mit meinen Bedürfnissen, meiner Persönlichkeit.
Jesper Juul, der kürzlich verstorbene Familientherapeut und Menschenfreund, wollte „Beziehungen (aufbauen), die die Sicherheit geben, gesehen zu werden.“
Es geht also um das Gefühl, gemeint zu sein; als Mensch. Was übrigens etwas völlig anderes bedeutet, als dass jedes meiner Bedürfnisse stets erfüllt wird oder alle Facetten meiner Persönlichkeit auf Beifall stoßen. Es geht darum, dass sich jemand für mich und meine Bedürfnisse interessiert, sie ernst nimmt, sie ihm/ihr nicht egal sind.

Strafen sind Manipulation – Belohnungen auch
Ein Garant dafür, sich nicht gemeint und nicht gesehen zu fühlen, ist Manipulation. Und nun kommen wir dem Ausmaß des Dilemmas etwas näher.
Denn sowohl Bestrafungen als auch Belohnungen zielen darauf ab, bestimmte Verhaltensweisen abzuschwächen oder zu verstärken (1).
Es ist Behaviorismus par excellence.

Wenn ich jemanden für ein bestimmtes Verhalten bestrafe, will ich, dass er/sie dieses Verhalten abstellt. Wenn ich jemanden für ein Verhalten (oder eine Leistung) belohne, zeige ich, dass ich dieses Verhalten gut finde (und mir dies auch in Zukunft so wünsche). Es geht also um eine beabsichtigte Veränderung des Verhaltens.

Wenn ich so mit jemandem umgehe, dann sehe ich ihn oder sie nicht als einzelnen Menschen in seiner Individualität, sondern dann wende ich auf ihn/sie eine psychologisch erprobte Methode an: Der Fachbegriff dafür ist Konditionierung (2). Und damit mache ich denjenigen, auf den ich diese Schablone anwende, zum Objekt (3).

Das Wort Manipulation mag hart klingen, aber genau das ist es, was wir (meist unbewusst) tun, wenn wir jemanden bestrafen oder belohnen. Es sind zwei Seiten derselben Medaille (vgl. auch Zeit online).

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2 Kommentare

  1. Liebe Linda,

    Ich finde deinen Blog toll und teile auch deine Forderung nach kleineren Klassen!
    Ich kann das fordern, aber die Realität ist leider hier eine andere. 28 Kinder in einer Klasse und wie du selbst auch schreibst: es funktioniert nicht. Jeden Tag gibt es in der Grundschule unzählige Konflikte zwischen den SchülerInnen, man könnte den ganzen Tag damit verbringen, sie zu lösen. Aber man soll ja auch noch Lernziele erfüllen und Bildungsstandards erreichen. Es ist frustrierend in einem System zu sitzen, in gefühlter Ohnmacht.
    Ich kann es nicht ändern. Aber was sollen wir „normalo Lehrkräfte“ tun? Ich versuche auch Strafen und Lob zu verzichten. Aber es ist schwer, wenn alle anderen KollegInnen es anders machen und man als Referendarin dann aufgefordert wird, „härter durchzugreifen“. Wie soll man diesen Spagat schaffen, ohne sich dem Burnout zun Fraß vorzuwerfen?

    Ich freue mich auf neue Blogeinträge. Es wäre für mich sehr hilfreich, wenn auch inmer mal konkrete Situationen aus dem Alltag detailliert geschildert werden und wie sie lösbar sind.

    Liebe Grüße
    Charlotte

  2. Liebe Linda, was für ein toller Blog! Auch ich glaube, dass genau das die Richtung ist, die wir für die „neue Schule“ brauchen- ein menschlicher Umgang miteinander. Weg von den pawlowschen Hunden und den Bestrafungen und Sternchenheften. Ich bin gerade dabei, die „Family Lab“- Fortbildung zum Thema „Das wird Schule machen“ zu besuchen und praktiziere diese Ideen seit einiger Zeit auch in meiner Klasse. Endlich wieder echt sein und in Kontakt zu den Kindern! Und das tolle ist: Ich habe seitdem viel entspanntere Kinder dort sitzen, gehe hundert Mal lieber zur Schule und sogar die Lernergebnisse sind viel vertiefter, weil ich durch den angelegten „Lehrerinnenstress“ viel besser ins Unterrichtsgespräch komme und wir hundert Mal konzentrierter arbeiten und miteinander quatschen. Ich werde mir hier mit Sicherheit noch einiges ansehen. Danke für die Inspirationen! Liebe Grüße Julia

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