In wenigen Wochen stehen die mündlichen Prüfungen für meine Kleingruppe an. Ich merke, wie mein Anspannungs-Level zunimmt. Das freundliche „Hallo, schön, dass du da bist“ muss ich mir abringen, wenn jemand zu spät kommt. Wenn sich jemand für den ganzen Tag bei mir abmeldet, kommen Ärger und Frust in mir hoch.
Warum kommen die nicht, verdammt nochmal, gerade jetzt, wo es so wichtig ist!?
Vorbei sind die Zeiten, in denen ich locker flockig mit einem Spiel in die Stunde startete. Es ist noch so viel Stoff und die Zeit wird knapp! Wir müssen uns beeilen!
Das P wie Panik macht sich in meinem Kopf breit, und zeitgleich nimmt die Gedanken-Turbine Fahrt auf…
„Ich mache mir die ganze Mühe, und ihr kommt einfach nicht!“
„Ich will doch nur, dass ihr die Prüfung gut hinbekommt!“
„Wenn ihr gar nicht erst kommt, kann ich euch auch nicht helfen!“
„Mit der Arbeitsmoral werdet ihr das garantiert nicht hinkriegen!“
Sogar meine Kollegin habe ich schon damit verrückt gemacht. Habe die Fehlzeiten akribisch kontrolliert und ihr gezeigt: „Das geht doch nicht!“
Auf den Hosenboden setzten und arbeiten
Ja, solche Tage gibt es. Tage, an denen die Pferde mit mir durchgehen. An denen sich mir nichts, dir nichts die alte Leistungs-Brille wieder auf meine Nase setzt.
Leistung. Das ist der Begriff, über den ich mich lange definiert habe. An fing das Ganze in meiner Schulzeit – schon in der Grundschule merkte ich: Wenn ich etwas leiste, bin ich gut. Als wir in der dritten Klasse unseren ersten Aufsatz schrieben, bekam ich eine 1. Die Lehrerin las meinen Text in der Klasse laut vor. So viel Anerkennung und Aufmerksamkeit hatte ich noch nie bekommen! Ich wusste gar nicht wohin mit meinem Stolz. So geht das also, dachte ich.
Später am Gymnasium wurde daraus Druck – ich muss gut in Deutsch sein. Ich war doch immer gut in Deutsch. Wenn ich nicht genauso gut bin wie vorher, dann…
An meiner neuen Schule – einem streng-katholischen Gymnasium, war das nicht so leicht. Stundenlang hockte ich in meinem Zimmer, um für Prüfungen und später für das Abitur zu lernen. Sieben Jahre voller Arbeit.
Den Höhepunkt hatte mein Leistungsdenken dann im Referendariat – und das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Ich erfüllte die von mir verlangten Erwartungen bis ins Kleinste. Das Gefühl von Leere, das sich immer mehr in mir breitmachte, schob ich beiseite.
Und ich war überzeugt: genauso funktioniert es. So sollen es gefälligst auch meine Schüler machen. Sich hinsetzten und arbeiten!
Sollen sie das?
Ja klar, Frau G…
Es wäre so leicht: Ihnen Vorwürfe und ein schlechtes Gewissen zu machen. Ihnen zu drohen. Strafen zu verhängen. Sanktionen für’s Zuspätkommen. Angst- und Panikmache vor den Prüfungen.
Letzte Stunde sagte ich einmal halb im Spaß: „Ich glaube, ihr müsst alle mal nachsitzen.“
Und wie reagierten meine Schüler/innen?!
Schallendes Gelächter. „Ja klar, Frau G.! Sie dann aber auch!“ Hahaha.
Entwaffnet stand ich da. Sie nahmen mich überhaupt nicht ernst.
Wie gut.
Wenigstens die jüngere Fraktion im Klassenraum hatte noch ihren gesunden Verstand und Humor behalten. Strafen verhängen? Nicht mit uns!
Die Klarheit ihrer Reaktion rückte meine Sicht wieder zurecht. Was mache ich hier eigentlich? Und warum führe ich mich so auf?
Fühlen, was los ist
Tatsächlich sind die jungen Menschen, die in einigen Wochen ihren Schulabschluss machen, weit entfernt davon, sich wegen der baldigen Prüfung zu stressen oder in Leistungswahn zu verfallen.
Die Schüler/innen in meiner Gruppe sind alle erkrankt. Nur deswegen steht ihnen das luxuriöse Angebot „Kleingruppe“ zu. Ich vergesse das manchmal. Es hat einen Grund, warum sie bei uns sind.
Sie kommen, wenn es ihnen gut geht, und wenn es ihnen nicht gut geht, dann melden sie sich ab und kommen nicht.
Sie besitzen die wichtige Fähigkeit, in sich hineinzufühlen und festzustellen, wie es ihnen geht. Sich selbst einzuschätzen – was tut mir heute gut? Und entsprechend zu handeln.
Mir ging diese Fähigkeit schon vor langer Zeit verloren, so wie vielen anderen Erwachsenen, die in einem leistungsorientierten Umfeld aufgewachsen sind. Heute müssen wir das mühsam wieder erlernen.
Noten-Druck adé!
Mein alleiniger Fokus auf die Prüfungen und die damit verbundene Leistungsfeststellung brachten mich total in Stress. In Abwertung, in alte Denkmuster. Sie setzten mich unter Druck. Meinen alten Druck.
Erst die weisen Worte meiner Kollegin holten mich zurück.
„Linda, weißt du, welche Noten sie in der Prüfung bekommen, ist doch nicht so wichtig.“ Und fügte hinzu: „Hier bei uns geht es doch um was ganz anderes.“
Zack. Die Leistungs-Brille fliegt runter. Meine Kollegin hat Recht.
Hier geht es nicht um Leistung. Hier geht es um Menschen. Und darum, dass sie Gutes erfahren, Vertrauen erhalten, unterstützt werden.
Heute fragte mich eine Schülerin, ob wir mal wieder am Ende der Stunde was spielen können. Ich atmete tief durch. Die „Nein, keine Zeit“-Gedanken nahmen schon ihre Startposition ein.
Schnell kam ich ihnen zuvor und sagte einfach ja.
Und ich merkte: Die einzige Person, die hier Druck macht, bin ich.
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