Umgang mit jungen Menschen in Zeiten des Lockdowns und der online-Unterrichtsversorgung
Aus dem „Distanzlern“-Alltag einer Lehrerin…
„hallo frau göking, ich schicke ihnen später englisch wenn ich es fertig hab.“
Eine whatsapp-Nachricht einer Schülerin nach wochenlanger Pause und wiederholten Versuchen von mir, Kontakt aufzunehmen. Alles hatte nichts geholfen: nachbohren, in Ruhe lassen, Korrespondenz nur noch über Email statt am Telefon (was ein Wunsch der Schülerin war) – an Ergebnissen kam bei mir nichts an, gar nichts. Und jetzt das. Nun keimte doch ein Hoffnungsschimmer bei mir auf, ich sah den Silberstreif am Horizont, gespannt checkte ich Stunden später meine Mails – wieder nichts. „Ach Mensch, Luisa*“, dachte ich und seufzte tief.
Enttäuschung. Ja, die fühle ich gerade häufiger – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Denn ich oblag einer Täuschung! Ich dachte doch glatt, dass das zuhause-bleiben-Dürfen von Schüler*innen für Entspannung sorgen und entlasten würde. Keine wuseligen Klassenzimmer mehr, keine Fahrerei, kein frühes Aufstehen… Entspanntes Lernen und Arbeiten in heimischer Atmosphäre.
Doch einen klitzekleinen Umstand hatte ich bei dem Ganzen vergessen: dass das zuhause-bleiben-Dürfen gar kein Dürfen ist, sondern ein Müssen. Und das nach-Hause-Schicken von Aufgaben ja gar kein „Angebot“, sondern die neue Norm.
Ich weiß noch, wie ich mich im März 2020 zunächst freute über die neuen Möglichkeiten, Schüler und Schülerinnen von nun an online mit Unterricht zu „beglücken“: Ich dachte an das klassische homeschooling, an Fern-Schulen und an Tokio Hotel (die ihre Schulabschlüsse an einer Internet-Schule absolviert haben). Ich dachte: Großartig, endlich würde die Schulgebäude-Anwesenheitspflicht aufgehoben bzw. gelockert! Und junge Menschen etwas mehr in Ruhe gelassen. So dachte ich.
Doch dann ging es los… Lehrer*innen und Schulen rüsteten auf: Iserv, Meistertask und Co., endlose Aufgabenlisten mit „erledigt“-Buttons, verpflichtende Skype-, Zoom- und Jitsi-Konferenzen. Was sich tarnte als „endlich wird Schule digital“ war der Beginn einer schleichenden Verschiebung des Schul-Zwangs ins Private: Heute ist auch am heimischen Laptop kein junger Mensch mehr gefeit vor schulischen Aufgaben, Abgabeterminen, Korrekturen und Ermahnungen. Der Schulstress zieht quasi zuhause mit ein.
Schüler*innen reagieren unterschiedlich – surprise!
Was für den/die eine ein „Klacks“, ist für den/die andere eine verheerende Sache. Ich habe Schüler*innen, die ich gut erreiche, die sich auch von sich aus melden, und die mir innerhalb kürzester Zeit Ergebnisse senden, um diese mit mir zu besprechen. Ein Träumchen für jede*n Lehrer*in! Wenn doch nur alle so gut mitliefen…
Doch wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, habe ich aktuell nur eine einzige Schülerin, mit der es mir so geht – alle anderen Teenager, mit denen ich zu tun habe, struggeln eher mehr als weniger.
Da ist Simon*, 17, der nur noch seinen ersten Schulabschluss benötigt, um in seine Ausbildung zu starten, und der mir nach wochenlangem Hin und Her in einem persönlichen Gespräch gesteht, dass er mit „homeschooling“ völlig überfordert ist, er in der Flut von Emails und Aufgaben den Überblick verloren habe und überhaupt nicht wisse, was er nun machen solle. „Wissen Sie, wenn mir jemand genau sagt, was ich wann wie machen soll, dann mache ich das auch!“ Simon benötigt ein echtes Gegenüber und Orientierung gebende Führung. Die kann ich ihm gerade leider nicht bieten…(und um ehrlich zu sein, auch in normalen Schulzeiten nur bedingt, da wir uns nur dreimal die Woche sehen. Aber immerhin.)
Und da ist diese eine Schülerin, Sarah, die alles, was ihr zugeschickt wird, fleißig abarbeitet, zu vereinbarten Zeiten über Telefon bzw. Skype erreichbar ist und sich artig meine Rückmeldung „abholt“.
Da ist Luisa, die Schülerin von Beginn dieses Textes, die mehr oder weniger abtaucht und mir alle Jubeljahre mal eine sehr knappe Nachricht schreibt, nur um dann, ohne die geringste Reaktion auf meine Nachfragen, wieder lautlos in der Versenkung zu verschwinden. Ich habe keine Ahnung, was sie den ganzen Tag macht, geschweige denn, ob irgendetwas von dem, was ich ihr schicke, sie wirklich erreicht. (Natürlich gibt es aber Kontakt mit den Eltern und ich weiß, dass sie sicher zuhause ist.)
In diesem Spektrum bewegen wir uns also.
Über’s Erreichen
Jesper Juul sagte einmal: „Nicht die Jugendlichen sind unerreichbar, unsere Arme sind zu kurz.“ Ja – auch ich möchte meine Schüler*innen erreichen! Und wie! Nur frage ich mich aktuell: Können Erwachsenen-Arme auch zu lang sein? Wieviel Kontakt ist gut? Und was ist für manche zu viel „des Guten“?
Was, wenn Schüler*innen mir auf eine Mail am Freitagmittag hin schreiben: „Ich kann jetzt nicht, wir fahren gerade zu meiner Oma, weil die Krebs hat!“
Dauernde Erreichbarkeit ist Fluch und Segen, nicht umsonst haben einige Schulen (und Firmen) eine „Sperrstunde“ eingeführt, nach der keine Emails mehr versendet und beantwortet werden außer in akuten Notfällen. Ich fürchte, einigen jungen Menschen geht die Erreichbarkeit gerade etwas zu weit: Dauernd sollen sie abliefern, antworten, Ergebnisse schicken und sich zeigen. Sich mitteilen und Bericht erstatten. Wem würde da nicht die Birne rauchen?
Darum plädiere ich auch in diesen Zeiten: Hinfühlen und im Einzelfall entscheiden. Schüler*innen sind keine homogene Masse an blauen Skype-Männchen (die sehe ich jedenfalls immer als Platzhalter, wenn jemand die Kamera aus hat).
So provokant das sich-Verbergen und die Unerreichbarkeit mancher Jugendlicher auf uns Erwachsene auch wirken mag, und so sehr ich mich manchmal auch ärgere:
Das Ausschalten der Kamera oder auch das sich-nicht-Melden sind manchmal Versuche, sich einen letzten Rest Privatsphäre zu erhalten. Sich der dauernden Kontrolle und Überprüfung a la „Big Teacher is watching you“ zu entziehen, sich nicht auf Krampf zeigen zu müssen. Auch, wenn das für uns Lehrer*innen sich anders, ja manchmal sogar als bewusste Provokation anfühlen mag (und ja, vielleicht wollen auch manche Schüler*innen provozieren – wollte ich auch mit 16 – es sei ihnen gegönnt!).
Um nur einmal aufzuzeigen, was Jugendliche für unterschiedliche Bedürfnisse haben, ein kurzes Resümee meiner vergangenen Wochen. Die Aussagen der Jugendlichen reichten von
– „Ich brauche jeden Morgen einen Anruf von Ihnen“
– „Ich möchte am liebsten gar nicht telefonieren, lieber mailen“
– „Ich komme alleine klar und melde mich bei Ihnen, wenn ich Fragen habe oder was Neues brauche!“
– „Video Calls sind so schlimm für mich, ich habe total Angst davor.“
– „Mein PC hat keine Kamera, ich weiß, voll peinlich, können Sie das bitte für sich behalten?“
Probieren geht über studieren
Was nun aber tun mit der Situation, die nun mal gerade so ist, wie sie ist?
Ich probiere rum: Für einige meiner Lerngruppen habe ich Padlets eingerichtet. Schöne Sache, übersichtlich gestaltet. Aber auch hier lauert die Gefahr, immer mehr hochzuladen und junge Menschen damit völlig zu überfrachten – und wer einmal den Anschluss verloren hat, ist raus. Was mache ich also? Ich lösche einfach alte (nicht mehr aktuelle) Aufgaben. Jap, ich lösche sie. Wer eine Aufgabe dann nicht in der Woche gemacht hat, hat sie dann eben nicht. OMG, life goes on. Wenn sich daraus Probleme ergeben, kann man die besprechen. Aber es verhindert, dass der Berg unerledigter Aufgaben wächst und wächst und nur noch mehr einschüchtert und stresst.
Bei Schüler*innen, die sich eher entziehen, versuche ich, den schmalen Grat aus zu viel und zu wenig Kontakt irgendwie gut zu beschreiten: Der Schülerin, die am Freitagmittag so genervt reagierte, antwortete ich zum Beispiel erst am Montag, und zwar NUR in Bezug auf diesen familiären Schicksalsschlag. Da können Schulthemen auch mal zwei, drei Tage ruhen. Am selben Tag kontaktierte mich auch die Mutter, und ich war beruhigt.
Einen anderen Schüler, dem es kurzzeitig psychisch nicht gut ging, ließen wir einfach mal eine ganze Woche in Ruhe, er hatte Pause von jeglichen Aufgaben und Gedanken an Schule. Was offenbar hilfreich war, denn danach konnte er sich wieder fangen und mitarbeiten.
In Zukunft plane ich online-Sprechstunden einzurichten, also Zeiten, in denen ich bei Zoom verfügbar bin – und die Schüler*innen hinzu kommen können, einfach nur, um an ihren Sachen zu arbeiten oder Fragen zu stellen. Als freiwilliges Angebot, auch für diejenigen, die Video-Calls mit Ängsten und Druck verbinden. Mal sehen, wie das wird.
Less is more: Ein paar Tipps für den Alltag
Auch hier ist mir klar: Wenn ihr Lehrer*innen an einer Regelschule seid, habt ihr derzeit mehr als alle Hände voll zu tun, eure verschiedenen Lerngruppen zu versorgen und einigermaßen in Kontakt zu sein. Auch für Experimente bleibt euch vielleicht wenig Raum, weil ihr verbindliche Vorgaben eurer Schule erfüllen müsst. Darum hilft vielleicht – für euch selbst und auch für die jungen Menschen – als kleines Mantra oder Credo: Weniger ist mehr. Wir müssen nicht alles kontrollieren und immer auf Krampf alle erreichen. Es muss nicht jede*r zur gleichen Zeit die gleichen Aufgaben abliefern.
Wenn jemand sich Arbeit macht und etwas schickt: Würdigt es. Manchmal reicht schon ein kurzer Satz, wie ich kürzlich bei einer Oberstufenkollegin sah, die nur mit einer kurzen Mail auf eine eingereichte Aufgabe ihrer Schülerin antwortete: „Super Arbeit. Das, was du geschrieben hast, passt sehr gut zu unserem aktuellen Thema. Ich habe es außerdem wirklich genossen, dein Gedicht* und deine Buchtipps zu lesen.“ Die Schülerin freute sich so sehr, dass sie mir einen Screenshot der Mail schickte, garniert mit zehn Smileys. (*Es ging um „Afro-American culture“, den Einfluss dieser auf das Leben der Schülerin und um das Verfassen eines eigenes Gedichts.)
Was wenig bringt, ist, wenn Werke junger Menschen einfach im Nirgendwo verschwinden, ohne Reaktion von uns Lehrer*innen. Denn wenn es überhaupt keine Rückmeldung gibt – eigene Ergebnisse gar nicht gewürdigt werden, sondern einfach nur in einem schwarzen (iserv-)Loch verschwinden – wozu sich dann die Arbeit machen? Nur, um den grünen „erledigt“-Haken zu kassieren?
Wenn es soweit kommt, und es uns nur noch darum geht, ob junge Menschen ohne Sinn und Verstand fleißig wie die Roboter Aufgaben abgearbeitet haben, dann läuft irgendetwas schief.
Daher noch ein paar Impulse, die sich für mich etabliert haben:
– die Ziele (einer Stunde oder einer Woche) eher weniger hoch hängen, als man selbst anfangs meint (Erfolgserlebnisse schaffen!)
– kreative Aufgaben stellen, zum Beispiel Schüler*innen selbst Padlets erstellen lassen zu Themen des Fachs oder Themen ihrer Wahl (das probiere ich zumindest gerade aus)
– Raum lassen für eigene Ideen und echtes Lernen anstatt zusammenhanglose Aufgaben der Marke: „Bearbeitet S. 54-58 im Arbeitsheft.“
– weniger/ keine Aufgaben geben bei besonderem Wetter, bei dem man gerne rausgehen möchte (Schnee!!!)
– Großzügigkeit (alle fünfe gerade sein lassen) vor Kleinkariertheit (jeden Text akribischst durchkorrigieren und Berichtigungen verlangen), das hilft uns selbst und den Schüler*innen (bester Schutz vor Burnout, ich sag’s euch)
– Lieber ein Arbeitsblatt zu wenig als eins zu viel (freiwillige Extra-Übungen anbieten)
– Sich auch über kleine Erfolge freuen (wenn Schüler/innen eine Stellungnahme mit nur drei Sätzen abgeben – nicht aufregen – ist doch besser als gar nichts! Tipps geben für nächstes Mal, oder einen eigenen Mustertext senden, oder nach eigenen Interessen erkundigen und dazu schreiben lassen – nicht zum „Berichtigen“ zwingen!)
– Im Kontakt mit Eltern hat sich für mich etabliert: lieber kurz persönlich anrufen als Mail schicken (die Stimme, der Tonfall usw. tragen viel dazu bei, ob die Kommunikation gelingt und die eigene Botschaft auch so ankommt, wie man sie gemeint hat)
Apropos kreativ sein: Beenden möchte ich diesen Artikel ausnahmsweise in Gedichtform. Ich habe immer schon gerne Gedichte geschrieben, denn manchmal sagen wenige Worte mehr als seitenweise Text! Es ist ein kleiner Motivations-Brief geworden an die vielen jungen Menschen, die gerade mit „homeschooling“ kämpfen.
Liebe Schüler*innen!
Ihr habt eure Sorgen,
eure Persönlichkeiten und
Familien.
(Nervige) Geschwister,
vielleicht nur einen Laptop zu fünft.
Ihr habt alle Hände voll damit zu tun,
euch selbst zu finden,
und nun komme ich, und will
dass ihr die Email mit den Komma-Aufgaben
in eurem Postfach findet (und ausdruckt).
Ihr habt Träume, ihr seid mal krank,
ihr habt manchmal einfach keine Lust oder es
wird euch alles zu viel.
Da werden Lügen zur letzten Bastion,
zum Ausweich-Manöver,
und nicht antworten zum Statement
der Abgrenzung.
Ihr schlaft bis 14 Uhr,
werdet ans Telefon geholt
noch im Pyjama –
die Lehrerin ist dran!
Nirgendwo
seid ihr sicher
vor unseren Ansagen.
Nirgendwo habt ihr Raum,
so zu sein,
wie ihr wollt.
Ich wollte, ich könnte euch mehr bieten
als das,
was ich aktuell
homeschooling nenne.
Was ja nichts anderes ist,
als euch in Situationen zu bringen,
die ihr schrecklich findet oder die euch
verunsichern.
Liebe Jugendliche, ich war auch mal jung,
und ich weiß: Es gibt so viel Wichtigeres
als die Kommasetzung!
Schlaft und sammelt Kraft.
Versucht zu entdecken, wofür ihr mal
gebrannt habt.
Vor langer Zeit, als
eure Belange
noch nicht unter einem Berg von Schulaufgaben
versanken.
Stellt in Frage – all das, was hier gerade geschieht
und kommt erhobenen Hauptes
zurück in die Schulen.
Bereit, Unsinniges zu verweigern,
und für eure Interessen
einzustehen.
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*Alle Namen von Schüler*innen sind frei ausgedacht.
Das Beitragsfoto (Schülerin an Laptop) ist von: Annie Spratt / Unsplash
Ich bin zwar kein Lehrer, aber ich kann hier vieles nachvollziehen, weil ich in einen Online-Rechtschreibkurs einer Schule eingebunden bin und meine Lese- und Rechtscheibförderung ebenfalls online betreibe. Der Distanzunterricht stellt hohe Anforderungen an die Lehrer, aber auch an die Schüler. Und wenn man so damit umgeht, wie hier im Artikel beschrieben, wäre alles gut. Ich wünsche der Autorin viele Erfolgserlebnisse!