Ursachenforschung überflüssig?
Der Familientherapeut Jesper Juul beschreibt in seinem Buch „Aggression“, wie er zu Besuch in einer Einrichtung für „Schwererziehbare“ ist und dort immer wieder hört, die Jugendlichen seien hier, weil sie ein „Aggressionsproblem“ hätten. Juul fragt dann die Betreuer, ob denn schon mal jemand von ihnen einen Jugendlichen nach den Gründen gefragt habe, warum er/sie aggressiv sei, und was genau ihn/sie wütend mache. Auf diese Idee war tatsächlich noch keiner der Pädagogen gekommen.

Es ging nur darum, dass das Verhalten „Aggression“ als falsch eingestuft wurde. Und falschem Verhalten begegneten die Pädagogen mit Sanktion. Juul entwickelte dann einen völlig neuen Ansatz, in dem er die Gefühle der Jugendlichen als legitim ansah und ernstnahm (vgl. J. Juul: „Aggression“, S.Fischer, S.8 f.).

Regeln und Strafen auf staatlicher Ebene
Auch für unser Zusammenleben im Staat hat sich das Konzept von Regelbruch = Bestrafung als sehr nützlich erwiesen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass z.B. Gewalttaten, Betrügereien und Schädigungen anderer nicht in Ordnung sind – was ja auch erst einmal gut ist, denn dadurch sollen Menschen vor Übergriffen geschützt werden.

Nun gibt es aber viele Menschen, die trotz dieser Regeln genau diese Dinge tun. Und dafür werden sie normalerweise bestraft. Die heftigste Strafe ist bei uns der Freiheitsentzug – den wir auch deswegen verhängen, weil wir andere Menschen vor gefährlichen Menschen schützen wollen. Strafen dienen hier also zum einen der Abschreckung und zum anderen dem Schutz der Bevölkerung, aber sie sollen auch der Läuterung der Übeltäter dienen.

Was machen Strafen mit dem Bestraften?
Aber helfen diese Strafen wirklich? Welche Wirkung haben sie auf diejenigen Menschen, die bestraft werden? Meiner Erfahrung nach verhält es sich so:
Menschen, die Gesetze und Regeln brechen, tun dies meistens nicht, weil sie Regeln und Gesetze brechen wollen. Sondern weil es irgendetwas in ihnen gibt, dass sie zu diesen destruktiven Verhaltensweisen verleitet.

Woher kommt der Impuls, dass ich jemanden ermorden will? Warum will ich jemanden betrügen? Warum will ich jemanden schaden?
Niemand kommt als Straftäter auf die Welt. Menschen sind in ihren Persönlichkeiten und Handlungsweisen geprägt davon, wie sie aufgewachsen sind. Vor allem die ersten drei Lebensjahre sind entscheidend – immer mehr Psychologen und Psychotherapeuten bestätigen dies, wie z.B. Hans-Joachim Maaz (hier bei Ken FM im Gespräch) oder auch Prof. Karl-Heinz Brisch.

Ob sich Menschen nun durch Strafen von Handlungen wie z.B. einem Mord abhalten lassen, halte ich für zweifelhaft, ebenso wie die Annahme, dass diesen Menschen die Strafe (z.B. Freiheitsentzug) hilft, sich zu einem friedfertigeren Menschen zu entwickeln (das mag in wenigen Gefängnissen in Norwegen der Fall sein, die aber wenig mit unseren zu tun haben).

Insgesamt betrachtet werden „34% derjenigen, die in einem Jahr strafrechtlich sanktioniert wurden, […] innerhalb von drei Jahren rückfällig. Je intensiver die Sanktion, desto höher ist die Rückfallrate“! Und: „Die Rückfallrate ist bei jugendlichen höher als bei erwachsenen Straftätern“, wie es in dieser vergleichenden Studie heißt.

Junge Menschen und Strafen
Und damit zurück zum Thema Schule. Ein Blick auf die Statistiken zeigt, dass gerade junge Menschen sich durch Strafen kaum beeindrucken lassen:
„Wer glaubt, aus dem Jugendgefängnis werden geläuterte Heranwachsende entlassen, irrt allerdings. Trotz der vielen Maßnahmen und Angebote ist die Rückfallquote im Jugendgefängnis extrem hoch – höher sogar noch als im Erwachsenenvollzug“, sagt der Resozialisierungsexperte Bernd Maelicke in der Süddeutschen.

Doch wenn insbesondere Jugendliche sich offenbar nicht durch Strafen „läutern“ lassen, wie kommen wir dann darauf, dass wir in Schulen mit Strafen Schüler/innen erreichen oder sogar zu besseren Menschen machen?!

Der Bildungsforscher Peter Gray hat gezeigt, was passiert, wenn einige besonders „schwer erziehbare“ Jugendliche vom klassischen Unterricht befreit und nicht mehr bestraft werden, dafür aber Unterstützung bei der Entfaltung ihrer eigenen Interessen erfahren: Sie zeigen hervorragende schulische Leistungen. Wie kann das sein? Sollte unser Bild von jungen Menschen etwa ein Update benötigen?

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2 Kommentare

  1. Die Betrachtungen von Linda zu lesen, ist für mich als 80-Jähriger immer wieder ein Zuckerl, obwohl ich mit Schule nichts am Hut habe. Vielleicht auch gerade deshalb, weil meine geistig innere Datenbank alle Berichte, die mich über das Phänomen Schule erreichen, nicht in die Rubrik Bildung ablegt, sondern der Sparte Kriegsberichterstattung zuordnet.
    Dort erscheint Schule als ein Schlachtfeld auf dem, wie auf Schlachtfeldern üblich, die Wahrheit als Erstes stirbt. Weil sich dort das seltene Bündnis zwischen Lehrern und den heiligen Seelen von Kindern, die aus Liebe die Welt betraten, um diese in die Kultur zu transformieren, gegen die Demagogie der institutionalisierten Arroganz der Bildungsaristokratie behaupten muß. Diese ist der wahre Aggressor auf dem Schlachtfeld, dessen Absicht es nach wie vor ist, die angeborene Sehnsucht nach Liebe und Verbundenheit, ihren uralten Machtatitüden zu unterwerfen. Dazu braucht der Aggressor Bestrafung, Diszipinierung, Erpressung und das ganze Lügengebäude seiner Rechfertigungs-Demagogie. Nicht der Schüler, der die Tür vor dem ideologischen Bombardement seiner Geiselhaft zuschlug, sollte sich zu bußfertiger Einsicht aufgerufen fühlen, sondern die Arroganz der Macht, die nicht in der Lage ist, Bildung von Psychoterror zu unterscheiden.

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