„Hallo Frau G., ich muss Isabell leider schon wieder für heute entschuldigen. Sie hat sich fertig gemacht und ist auch aus dem Haus gegangen, aber dann auf halber Strecke wieder umgedreht. Jetzt ist sie wieder zuhause und hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen! Sie schafft es einfach nicht zur Schule.“

„Ich hatte eine Panikattacke auf dem Weg zur Schule und habe es nicht geschafft, tut mir leid!“

„Hallo ich hab total Bauchschmerzen und kann nicht kommen, könnten Sie mir ein paar Aufgaben schicken?“

Solche Textnachrichten erhalte ich in meinem Job fast wöchentlich: Von Eltern, aber auch von Schüler/innen selbst. Was steckt dahinter, wenn Kinder und Jugendliche es nicht zum Unterricht schaffen? Und was kann man selbst in diesem Fall tun?


„Problemfall“ Schulabsentismus
Kinder und Jugendliche, die es nicht schaffen, zum Unterricht zu kommen, sind für alle Beteiligten ein „Problem“. Denn zum einen steht das Thema Schulpflicht im Raum, zum anderen entgeht ihnen die Chance, an einem Unterrichtsangebot teilzunehmen, dass sie schulisch und persönlich voranbringen könnte.

Wenn Kids nicht mehr zur Schule gehen mögen (bzw. es versuchen, aber nicht schaffen), dann beobachte ich bei allen Beteiligten vor allem eines: Leidensdruck! Viele Schüler WOLLEN, aber sie KÖNNEN nicht – entgegen der Klischeevorstellung vom jugendlichen Schulschwänzer.

Nicht selten leiden sogar die Betroffenen selbst am meisten über ihr Unvermögen, nicht wie „alle anderen auch“ zur Schule gehen zu können. „Am liebsten würde ich einfach ganz normal zur Schule gehen“, sagte mir einmal eine Schülerin, als ich sie fragte, was sie sich von einer guten Fee wünschen würde. Der Wunsch nach Normalsein, Zugehörigkeit und „bloß nicht aus der Reihe tanzen“ ist groß – besonders bei Jugendlichen.

DIE 5 SCHRITTE

SCHRITT 1: Tabula rasa
„Der Anfang ist vor dem Anfang“, meinte einmal eine Kollegin zu mir. Was sie damit meinte: WIE wir in ein Gespräch gehen, bestimmt das Gespräch und die Begegnung als solche – egal ob als Lehrkraft oder als Elternteil. Wenn wir die Einstellung haben, dass jemand einfach nur eine faule Socke ist, die keinen Bock auf Schule hat, dann wird die Begegnung garantiert scheitern. Auch die Idee, dass der Betroffene nur ein paar Ordnungsmaßnahmen braucht, um wieder zu funktionieren, wird höchst wahrscheinlich floppen oder nur kurz Wirkung zeigen, weil damit nicht der Ursache auf den Grund gegangen wird.

In Erstgesprächen mit Schüler/innen und Eltern hat es sich für mich bewährt, wortwörtlich mit einem „leeren Blatt“ zu starten (übrigens ein Tipp meines Kollegen Andreas Reinke). Wirkliches, offenes Zuhören, ohne gleich eigene Gedanken und Lösungsideen parat zu haben, hilft, in einen wertschätzenden, wertungsfreien Kontakt zu kommen.

SCHRITT 2: Ursachenforschung
Nun wird’s konkret: Was genau verursacht das Unbehagen in Bezug auf Schule? Generell sind zwei Ursachen möglich, warum Kinder und Jugendliche unter Schule leiden:

A) Es gab einen konkreten Vorfall im Schulgebäude oder auf dem Schulhof (z.B. ein körperlicher Übergriff, Mobbing etc.). Manchmal geht es auch um eine konkrete Lehrperson oder ein konkretes Fach bzw. eine bestimmte Note.

B) Es liegt an system-inhärenten Phänomenen. Damit gemeint sind Aspekte, die das Schulsystem selbst mit sich bringt:
– die Erwartung mündlicher Mitarbeit,
– die Bewertung von außen durch die Lehrkraft im Beisein anderer,
– längere Zeit in einem Raum mit vielen anderen Menschen verbringen zu müssen,
– täglich mehrere Stunden an einem vorgegeben Ort sein zu müssen, an dem Leistung verlangt wird.

Feinfühlige Gesprächsführung wäre das Mittel meiner Wahl, um herauszufinden, wo sich ein Schüler/eine Schülerin einordnen würde. Dies gelingt in der Regel erst, nachdem man sich etwas kennen gelernt und Vertrauen zueinander aufgebaut hat (eine kleine Anleitung dazu gibt dieses Video von Deeskalationstrainer Hergen Sasse).

SCHRITT 3: „Du bist nicht verrückt“
Als Eltern oder Lehrkraft vermitteln wir dem betroffenen Kind / Jugendlichen, dass seine Ängste berechtigt sind und derjenige nicht „spinnt“ oder verrückt ist. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig dieser Schritt ist. Denn nur, wenn uns bewertungsfrei geglaubt wird, können wir uns wirklich öffnen und zeigen, wie wir sind. Wenig ist ätzender, als wenn wir uns jemandem anvertrauen, und dann hören „also das kann ja wohl nicht sein!“ oder „du spinnst ja wohl.“

Kleiner Reminder: Ein Missbrauchsopfer muss in der Regel acht Anläufe unternehmen, bis ihm/ihr geglaubt wird (laut Julia von Weiler vom Kinderschutzverein „Innocence in Danger“ in diesem Interview). Das kann so weit gehen, dass das Opfer es sich irgendwann selbst nicht mehr glaubt bzw verharmlost. Wie schlimm ist das bitte? Daher mein Credo: Ernstnehmen, ernstnehmen und nochmals ernstnehmen.

SCHRITT 4: Die psychische Not anerkennen
Auch wenn ich weder Arzt noch Psychologin bin, hilft es mir, zu wissen, was in meinen Schüler/innen vor sich geht, wenn sie an Schule und Unterricht denken. Denn schließlich bin ich als Lehrerin schon von Berufs wegen auch vom Typ „Schule“. Und daher stelle ich Fragen: „Wie geht es dir, wenn du an Schule denkst?“; „Wie geht es dir, wenn du morgens zur Schule gehst?“
Manchmal erfahre ich auf diesem Wege von:
– Alpträumen,
– psychosomatischen Beschwerden (Atemnot, Bauchweh),
– Ängsten, Sorgen
– Panik-Attacken.
Häufig ist es auch die allgemeine Angst, zu versagen, nicht zu genügen, den Erwartungen von außen nicht gewachsen zu sein.

Die mitfühlende Anerkennung dieser Symptome ist der Schlüssel zur Besserung. „Die schlimmsten Verletzungen erleiden Menschen durch andere Menschen. Und gleichzeitig erleben wir durch den Kontakt mit anderen Menschen, die uns wohlgesonnen sind, die größte Heilung“ (B. Assel, Trauma-Therapeutin). Egal, ob Lehrkraft, Elternteil oder Jugendbetreuer: Manchmal reicht schon eine einzige wohlmeinende Person in unserem Leben, dass es uns ein bisschen besser geht und wir wieder an Selbtvertrauen gewinnen.

SCHRITT 5: Sich Hilfe holen
Bei A)

Ich empfehle eine gute Therapie als DAS Mittel, länger andauernden psychisch belastenden Zuständen auf den Grund zu gehen. Ich habe beobachtet, dass Beratungslehrer an Schulen manchmal vorschlagen, Täter und Opfer nach einem Mobbing-Vorfall gegenüberzustellen und sich „aussprechen zu lassen“. Dies halte ich ehrlich gesagt für keine gute Idee. In erster Linie muss es um den Schutz desjenigen gehen, der akut leidet und deswegen nicht in die Schule gehen kann. Voraussetzung dafür ist ein sicherer Raum, in dem sich nicht zeitgleich der Täter befindet!

Wie findet man eine gute Therapie? Nach starken emotionalen Erschütterungen (Mobbing, Gewaltvorfall) empfehle ich Trauma-fokussierte Therapien. Sehr anschaulich finde ich da die Aufstellungsmethode (IoPT). Auch Therapeuten, die mit „Ego States Theory“ arbeiten – das sind die verschiedenen Anteile in uns, die sich nach einem Trauma voneinander trennen – können die eigenen inneren Zustände meist anschaulich (und kindgerecht) erklären. Aber auch reine Verhaltenstherapien können zumindest kurzzeitig helfen. Das A und O ist eine gute Beziehung und Vertrauen zum Therapeuten.

Als Faustregel gilt: Verschiedene Ansätze ausprobieren, Hauptsache es hilft dem Betroffenen. Frei nach dem Motto „Wer heilt, hat Recht.“ Darüber hinaus mag auch die Veränderung der äußeren Umstände wie z.B. ein Wechsel der Schule sinnvoll sein.

Noch ein Wort zu Therapien und Diagnosen: Ich weiß, dass ICD-10 Diagnosen häufig zu kurz greifen und dem Menschen nicht ganzheitlich gerecht werden, auf der anderen Seite können sie doch hilfreich sein, wenn es um die Bewilligung bestimmter Mittel geht und auch dazu, um den Ernst der Lage für alle Beteiligten nochmal zu verdeutlichen. Denn die Diagnose zeigt: Das Leiden ist nicht eingebildet, sondern man hat es sozusagen schwarz auf weiß.

Bei B)
Hier handelt es sich eher um persönlichkeitsbedingte Leidensgründe: Ein erhöhtes Autonomie-Bedürfnis oder ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe sind eigentlich keine Krankheiten. Trotzdem benötigt man auch hier in der Regel ein Attest. Dies dient als Basis, um bestimmte Entlastungen (z.B. einen Nachteilsausgleich) mit der Schule abzustimmen. Niemand darf wegen seinem „Anderssein“ benachteiligt werden. In so einem Ausgleich kann dann z.B. die Reduktion der wöchentlichen Unterrichtsstunden vereinbart werden, oder die Befreiung von der mündlichen Mitarbeit (stattdessen schriftliche Ersatzleistungen). Auch Absprachen mit der Schule und individuelle Vereinbarung mit der zuständigen Lehrkraft sind möglich (z.B. vermehrte Pausen für den/die Schüler/in). „Nachteilsausgleiche enden dort, wo unsere Fantasie endet“, pflegte meine ehemalige Chefin zu sagen.

Dies ist übrigens keine Bevorzugung eines Schülers und auch nicht ungerecht gegenüber den anderen Schülern. Denn die anderen Schüler haben vielleicht keine Probleme damit, längere Zeit in einem Raum mit anderen zu sitzen, sich zu melden, usw. und bekommen davon keine Panik-Attacken auf dem Weg zur Schule! Das können Lehrer/innen auch genauso kommunizieren, wenn sie mit ihrer Klasse darüber sprechen.

Und dann?
In jeder größeren deutschen Stadt gibt es Beratungsstellen bei Schulabsentismus. Da es immer mehr Kinder und Jugendliche werden, die es nicht in Schule schaffen (Corona sei „Dank“), müssen offizielle Stellen darauf reagieren. Sei es mit temporären Kleingruppen oder Übergangs-Unterricht von zuhause aus. Deutschland hat mittlerweile auch mehrere Online-Schulen (die Hebo Webschule, Deutsche Online Schule u.a.), die teils sogar in Kooperation mit der Stammschule laufen. Tatsächlich können auch Jugendämter Tipps geben und eine Hilfe sein.

Ich kann hier natürlich nicht für alle Bundesländer sprechen. Sich einen Nachmittag Zeit zu nehmen und in Ruhe im Internet zu recherchieren, lohnt sich in jedem Fall. Ich lerne sogar in meiner eigenen Stadt Hamburg immer wieder neue Beratungsstellen und außerschulische Angebote kennen, von denen ich noch nie gehört habe.

Schulabschluss ade?
Manchmal ist es so, dass ein junger Mensch wegen seiner besonderen Situation und den dadurch bedingten Fehlzeiten den angestrebten Schulabschluss nicht schafft und zuvor das Schulsystem ohne den Abschluss verlässt. Dies sorgt in aller Regel erst einmal für Traurigkeit, Verzweiflung und das Gefühl, nichts auf die Reihe zu bekommen und abgehängt zu werden. Hier sage ich meinen Schüler/innen immer:

„Dass es JETZT nicht klappt, heißt nicht, dass es niemals klappt. Im Moment schaffst du es nicht, aber wer weiß, was in einem Jahr ist? Es gibt Abendschulen, Fernschulen und sogar Online-Schulen, wo du deinen Abschluss nachholen kannst. Nichts ist unmöglich. Du magst dich vielleicht gerade wie blockiert fühlen, aber das sagt nichts über deine Fähigkeit, zu lernen und den Schulabschluss zu machen, den du machen möchtest.“


Wie geht ihr damit um, wenn Schüler/innen es nicht zur Schule schaffen? Schreibt es mir gern in die Kommentare!

[Beitragsbild: Verne Ho, unsplash]

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