Es gibt einen neuen Unterrichts-Trend, er nennt sich „Achtsamkeit“ für Schülerinnen und Schüler: Konzentrationsübungen, autogenes Training, Body-Scans, Entspannungsübungen – dies alles soll jungen Menschen helfen, sich besser zu konzentrieren, zur Ruhe zu kommen und stressresistenter zu werden.
Ich halte von diesem Trend, kurz gesagt, wenig. Denn hier werden nicht nur Symptome behandelt, ohne auf die Ursachen zu schauen, sondern auch ziemlich unachtsam körperliche Grenzen überschritten.
…damit sie sich besser konzentrieren können
Ich folge auf instagram und facebook verschiedenen Menschen, denen es darum geht, Schule besser zu machen; und überall lese ich großen Jubel, wenn jemand in seinen Unterricht Meditationen, Traumreisen oder Achtsamkeitsübungen einbindet. Was mich nachdenklich gemacht hat, ist, wie selbstverständlich all diese Übungen und Trainings momentan gehyped werden.
Dabei fallen mir direkt zwei Fragen ein, die erst einmal geklärt werden müssten, bevor man blindlinks seinen Unterricht mit Konzentrationsübungen „tuned“.
Aufmerksamkeitsdefizit oder einfach nur normal?
Erstens: Sind die Schüler wirklich unkonzentriert – oder richten sie ihre Aufmerksamkeit vielleicht nur auf etwas anderes, als auf das, worauf sie sie unserer Meinung nach richten sollen?
Vor Kurzem las ich einen Beitrag in einem Forum – es ging um die Frage nach guten Konzentrationsübungen – der in etwa so lautete: „Ich habe zwei Schüler in meiner 2.Klasse, beide sind sehr intelligent und haben schon früh angefangen zu schreiben und zu lesen; ich mache mir aber Sorgen, denn beide Kinder können die Konzentration nicht halten. Sie träumen immerzu und verlieren beim Lesen nach wenigen Wörtern den Faden, um sich stattdessen Bilder anzuschauen.“
„Das geht mir auch so!“ hätte ich am liebsten geantwortet – denn wer liest schon gern einen langen (vielleicht auch nicht so spannenden Text), wenn es stattdessen interessante Bilder gibt!? Während meiner Zeit als Redakteurin habe ich gelernt: Das allerwichtigste an jeder Seite sind die Bilder. Menschen schauen automatisch als erstes auf die Bilder und die kurzen Bildunterschriften, die langen Artikel dazu sind oft nebensächlich.
Es ist also die Frage, wie dringend Zweitklässler Übungen brauchen, weil sie beim Lesen von vorgegebenen Unterrichts-Texten gedanklich abschweifen – zumal diese „Konzentrationsschwäche“ offenbar überhaupt nicht die Auffassungsgabe und Neugier der Kinder mindert.
Veränderter Fokus
Zweitens: Falls tatsächlich bei jungen Menschen die Konzentrationsfähigkeit schwindet bzw. sich verändert, ist das wirklich ein Grund zur Sorge?
Ich kenne Schüler/innen, die sich mithilfe von Youtube-Tutorials alles Mögliche selbst beibringen – vom Satz des Pythagoras bis zu europäischer Frühgeschichte. Youtube-Videos wie von „The Simple Club“ oder „Crash Course History“ sind in erster Linie eins: schnell. Schnelle Schnitte, schnelle Sprache, sekundenschnelle Mini-Einblendungen und Cross-overs. Wer daran gewöhnt ist, für den sind textlastige Lehrbücher oder gar schwarz-weiß Kopien der Supergau in Sachen Konzentration.
Für einige meiner Schüler ist daher auch mein Unterricht, der sich zum Großteil auf Gespräche und Texte beschränkt, einfach nur sterbenslangweilig – weil sie an eine dichtere und ansprechendere Art der Informationsvermittlung gewöhnt sind. Ich bin aber weit entfernt davon, zu glauben, dass diese Schüler ein allgemeines Konzentrationsproblem haben, das ich mithilfe von Übungen beheben müsste.
Verordnete Massagen
Doch der Hauptgrund, warum mich Konzentrations- und Achtsamkeitsübungen im Unterricht auf die Palme bringen, schürt noch tiefer:
Wir Lehrer/innen bestimmen neuerdings nicht mehr nur darüber, was Schüler/innen wann, wie, mit wem und in welchem Tempo lernen, sondern auch darüber, wann sie sich wie zu entspannen haben.
Vor Kurzem sah ich ein Video, in dem Kinder einer französischen Grundschule sich zwecks Entspannung gegenseitig an Kopf, Schultern und Rücken massieren sollten. Vorne im Klassenraum stand die Lehrerin, die die Massage-Handbewegungen vormachte, und die Kinder machten die Bewegungen folgsam nach. Die Schülerinnen und Schüler massierten dabei stumm ein jeweils anderes Kind, das vor ihnen saß. Das Video erntete tausende Likes.
Eine solche „Entspannungstechnik“ ist aber nichts anderes als eine Methode, die mit großer Wahrscheinlichkeit gerade nicht für Entspannung und Gelassenheit sorgt.
Und das nicht nur, weil Methoden Menschen per se zu Objekten machen (1), sondern auch, weil bei solchen Übungen körperliche Grenzen überschritten und Zuständigkeiten vertauscht werden.
Liebe Linda (…), Hamburgerin, Autorin…
die Geschichte mit solchen Pseudo-Entspannungs-Geschichten ist ganz einfach. Das wird gemacht, weil Entspannung im stressreichen Unterrichtsalltag offensichtlich ein Defizit darstellt. Statt nun aber an die Ursache zu gehen und einen entspannten Unterricht zu machen (Unterricht in einer angstfreien Atmosphäre ohne strukturelle Gewalt auszuüben mit irgendwelchen Druckmitteln – siehe Ihr Rubikon-Interview mit J. Lehrich, B. Stern und B. Assel), hängen sich die „Verantwortlichen“ lieber so ein „Feigenblättchen“ um und sagen dann „Kuck doch, wir tun doch was für die Entspannung! Nämlich solche Übungen! Allerneuster Stand der Psychohygiene, bla, bla, bla.“ Das ist Symptomkurierung in Reinkultur! – Dann muss man im Grundsatz nix ändern! Ganz einfache Denke.
Lieber Herr Stadler, so habe ich das noch gar nicht gesehen, aber es stimmt: Entspannung als Defizit, und dann wird – statt auf die Ursachen zu schauen – mit einigen Übungen „interveniert“ und so getan, als wäre dies eine wirklich gute Lösung des Problems (welches nach wie vor bei den Schülern gesehen wird). Danke für Ihren Kommentar, dieser Aspekt fand in meinem Artikel keine Berücksichtigung.
Liebe Linda,
danke dir für diesen wichtigen Einwand!
Ich schließe mich meinem Vorredner an: Mein Haupt-Fragezeichen bleibt dabei auch, inwiefern wir damit zu kompensieren und „zuzupflastern“ versuchen, was wir den Schüler*innen durch die übliche Alltagsstruktur zumuten und das an so vielen Stellen ungesunde Auswirkungen hat. Wir sollten die Ursachen angehen, und dafür müssen wir einiges umkrempeln – eben „Schule neu denken“.
Was ich an dem Achtsamkeitsaspekt gut finde: Die Achtsamkeit mit mir selbst als Mensch in der Schule/im Unterricht/im Leben: Das sollten wir vorleben, unsere eigenen Grenzen kennen und achten und damit auch die Schüler*innen dazu ermutigen. Und dadurch auch die Achtsamkeit und Aufmerksamkeit FÜR unsere Schüler*innen ins Zentrum rücken.
Viele liebe Grüße von Süd nach Nord,
Katharina
Hallo Linda und Katharina,
wenn man sich mit unserer Gesellschafts-Struktur eingehend befasst, dann kann man diesen Achtsamkeits-Hype mit entsprechenden Übungen, die dann auch SchülerInnen zur Ruhe kommen lassen sollen, schnell einordnen als eine halbherzige Symptomkuríerung mehr. Das Muster solcher halbherziger „Lösungsangebote“ zieht sich wie ein roter Faden durch sehr viele gesellschaftliche Bereiche. Selbst, wenn man aus Frust zur Flasche greift und sich besäuft, wäre das so eine „Lösung“ (das drastische Beispiel ist nicht von mir, sondern ursprünglich von Gerald Hüther), deren gemeinsamer Nenner es ist, dass sie eben allesamt zu kurz greifen. Es wird etwas getan, es verdienen welche dran (z.B. irgendwelche „Coaches“), aber an den Kern des Problems kommt man doch nicht heran. An den Kern kommen wir nur mit ganzem Herzen ran!
Herzlichen Gruß an Sie beide
Christian
Zwangskonzentration in der beschriebenen Form ist wahrlich ein Übel, auch wenn die Phänomene, die man damit „bekämpfen“ will, sicherlich zum heutigen Schulalltag gehören. Diese Unaufmerksamkeit ist dabei ja nicht auf den Unterricht beschränkt, sondern ein Alltagsphänomen, dem man sich nur schwer entziehen kann. Mir fällt bei diesen „Methoden“ immer wieder ein, wie in meiner Volksschulzeit die Klasse mit über vierzig Schülern in der ersten Stunde mit dem „Vaterunser“ eingestimmt wurde, auch von meinem Lehrer, der durchaus nicht religiös war! Es hat übrigens gut funktioniert, was aber wohl weniger am Gebet lag als an der Persönlichkeit des Lehrers, bei dem man immer das Gefühl hatte, dass er jeden einzelnen seiner Schüler mochte. Und die Schüler mochten ihn! In einer Klasse, in der diese Beziehung zwischen Schüler und Lehrer funktioniert, gibt es wenig Probleme mit mangelnder Konzentration. Dieser pädagogische Bezug – halt ein wenig altmodisch – ist für mich eher der Weg, die im Beitrag angesprochenen „Probleme“ in den Griff zu bekommen. Übrigens habe ich selber an der Universität in Seminaren feststellen können, dass es möglich ist, hohe Konzentration bei StudentInnen auch unter schwierigen Bedingungen zu erhalten. Da war es natürlich nicht ein Gebet 😉
Lieber Herr Stangl, ja, genau: Be-ziehung statt Er-ziehung! 🙂 Danke für den Kommentar und das Teilen dieser auch positiven Erfahrungen.
Hallo Linda, danke für diesen Beitrag. Ich teile einige Ihrer Bedenken. Achtsamkeitsübungen sollten immer freiwillig sein und nicht als Mittel eingesetzt werden, um Kinder ruhig zu stellen (was sowieso nicht funktionieren wird). Grundsätzlich fragwürdig ist für mich auch, ob ein Lehrer in der Regelschule, der Noten vergibt und Kinder bewerten muss, gleichzeitig Achtsamkeitsübungen anleiten sollte. Aus meiner Sicht geht das gar nicht.
Leider wird in unserer heutigen Zeit vieles marginalisiert oder einem Ziel geopfert. Daher kommt auch das (falsche) Verständniss, dass Achtsamkeit dazu dient, zu entspannen oder zur Ruhe zu kommen. Vor allem so genannte „Traumreisen“ haben einfach gar nichts mit der Praxis der Achtsamkeit zu tun.
Studien zeigen übrigens, dass Kinder, die Achtsamkeit kennen lernen, eher aufmüpfiger als „braver“ werden, weil sie ihre Körperempfindungen besser wahrnehmen und ausdrücken können. Wenn der Pädagoge aber selbst nicht in der Achtsamkeitspraxis zuhause ist, wird er diese „Aufmüpfigkeit“ falsch verstehen und wieder versuchen, sie zu unterdrücken. Und das ist natürlich fatal. Eine fundierte Achtsamkeitspraxis kann Erwachsenen sehr helfen, die Lebendigkeit der Kinder nicht zu unterdrücken – das Hase läuft also genau anders herum…
Was den Bodyscan betrifft lauern leider auch hier viele Verständnisfallen. NEIN, das ist KEINE Entspannungsübung. Es geht darum, eine wache, interessierte Konzentration aufzubauen und die Übung kann große Schönheit und Tiefe entwickeln. Wie in der Schule braucht es aber zum lernen und um mit Widerständen umzugehen auch Vertrauen (Beziehung!) in denjenigen, der diese Übung anleitet. Und mit Vertrauen in andere und darin, sich anleiten zu lassen, tun sich viele Menschen oft sehr schwer. Möglicherweise hat das mit Traumata zu tun. Allerdings kann Achtsamkeit eben auch Traumata heilen – immer unter der Voraussetzung, dass Menschen diesen Weg im eigenen Tempo gehen können und keinen Zwang erleben.
Alles das kann man nicht in ein paar Stunden, online oder in eine App erlernen – das wäre ein bißchen wie „malen nach Zahlen“.
Viele Kinder lieben die Anleitung übrigens sehr. Sie mögen die Stille, sie mögen es, durch ihren Körper geführt zu werden und bei sich anzukommen. Sie mögen es auch, anderen Gutes zu tun, einander zuzuhören und Raum zu haben, in dem sie einmal nicht benotet oder verglichen werden oder etwas leisten müssen. In einem gut geleiteten Stunde kann eine Atmosphäre entstehen, die Kinder stärkt und mit sich und anderen verbindet. Ob die Regelschule dafür der passende Rahmen bietet, bezweifle ich allerdings.
Vielleicht geben Sie der Achtsamkeit ja noch eine Chance…
Herzliche Geüße
Julia
Liebe Julia, vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich finde es interessant, dass, wie Sie schreiben, Kinder, die Achtsamkeit kennen lernen, eher aufmüpfiger als „braver“ werden…Offenbar haben Sie da schon eigene Erfahrungen gemacht. Und ja, wie soll ich jemandem wirklich vertrauen, der den „Job“ hat, mich zu bewerten und benoten? Schwierig..
Ob Achtsamkeit allerdings Trauma heilen kann, wage ich zu bezweifeln, aber das müsste man an anderer Stelle diskutieren ;-). Auch ich kenne aber die positiv-beruhigenden Effekte z.B. von Meditation und nutze diese auch für mich privat. Herzliche Grüße!