Einfach mal machen. Diese Einstellung bringt mich manchmal in Teufels Küche – und ins Theater.

Über meine Arbeitsweise könnte manch einer sagen, sie sei blauäugig-optimistisch, um nicht zu sagen: naiv. Was stimmt.
Mein Motto „Das klappt schon!“ mag in Anbetracht meines verantwortungsvollen Jobs auf Skepsis stoßen, und nach außen hin nicht gerade umsichtig und reif erscheinen.
Trotzdem bin ich mit meiner Einstellung zumindest beruflich bisher ganz gut gefahren.
Bis ich vor Kurzem auf die Idee kam, einen Theaterbesuch für einen Schüler von mir zu planen.

Let’s just do it
Ich habe Leon* vor einigen Wochen als neuen Schüler bekommen und war gleich Feuer und Flamme, als er auf meine Frage, was wir in Deutsch machen wollen, sagte, er wolle ein Theaterstück lesen. Ein 16jähriger, der sich für’s Theater interessiert – das kommt nicht so häufig vor. Euphorisiert besorgte ich uns erst einmal ein einfaches Stück (Lutz Hübner „Herz eines Boxers“), aber als sich herausstellte, dass Leon selbst noch nie ein Theaterstück live gesehen hatte, griff ich nach der Stunde zum Hörer und besorgte uns kurzerhand Tickets für die „Moby Dick“-Vorstellung im Hamburger Thalia Theater.

Auch Leon war begeistert, seine Eltern einverstanden. Der Termin konnte kommen.

Ach, da war ja was
Jetzt kommt der Teil, den ich bei der ganzen Sache ausgeblendet habe: Leon ist schwer herzkrank. Vor nur wenigen Monaten hat er sogar ein neues Herz bekommen und es sah alles gar nicht rosig aus für ihn, wochenlang lag er auf der Intensivstation. Zwar treffe ich Leon sogar in der Klinik zum Unterricht, trotzdem hatte ich die Schwere seiner Erkankung im Trubel und meinem Eifer irgendwie vergessen.

Wenige Tage vor der Vorstellung brach diese Erkenntnis über mich herein: Ich sah mich in einem riesigen Theater voller Menschen, am späten Abend, in einer 2,5 Stunden-Vorstellung mit einem schwer herzkranken Schüler, über dessen Erkrankung ich so gut wie gar nichts wusste. Oh. mein. Gott. Was machte ich da eigentlich? Wohin hatte mich mein Übereifer wieder gebracht?!
Meine Pippi-Langstrumpf-Mentalität würde mich noch um meinen Job bringen.

Die Empfehlung meiner Abteilungsleiterin, dass ich unbedingt daran denken solle, einen Taxitransport für den Schüler zu organisieren und das schriftliche Einverständnis der Eltern zu holen, denn sonst  wörtlich „käme ich in Teufels Küche“, machte die Lage nicht wirklich besser.

Argh. Das hatte ich tatsächlich bisher versäumt. Noch aber hatte ich Zeit, alles zu organisieren, und so machte ich mich an die Arbeit.

Zweifel und Sorgen: Wie konnte ich nur…
Leider war die Woche, in der das alles anfiel, eh schon total voll. Fiese Gedanken machten sich also breit: Wieso mache ich nicht einfach „nur“ meinen Job? Dienst nach Vorschrift, Buch auf, und nach 90 Minuten Unterricht ist Schluss! Warum muss ich immer auf solche Ideen kommen?

Schließlich war der Tag da, ein Mittwochabend. Mit Plastik-Sektgläsern, alkoholfreiem Schampus und Weingummi unterm Arm wartete ich vor den Eingangstoren des Thalia Theaters auf Leon.

Meine sorgenvollen Gedanken liefen zu Höchstform auf: Hoffentlich würde mit der Abholung durch das Taxi alles gut gehen, hoffentlich war es pünktlich, hoffentlich hat Leon heute Nachmittag etwas schlafen können und war fit, hoffentlich sind es nicht zu viele Leute, hoffentlich ist das alles nicht zu anstrengend, hoffentlich sitzt keine Frau mit Schnupfen neben uns…

Und Action
Schließlich bog ein Taxi um die Ecke, und auf dem Rücksitz erkannte ich schemenhaft einen grinsenden Leon, in Hemd und Lederjacke. Er sah ganz anders aus als in der Klinik. Und plötzlich ahnte ich: Das war eine gute Idee. Und: Das klappt schon alles heute.
Ich machte mir einen Spaß, öffnete Leon die Autotür und geleitete ihn wie einen V.I.P. ins Theater.  Wir tranken „Sekt“ und machten Fotos mit dem Handy.

Das Stück war so cool: Die Schauspieler ruderten lautstark imaginäre Boote, literweise versank die Bühne in Wasser und Kunstblut – was für eine Action! Besser als jede Deutsch-Stunde zum Thema „Theater“. Krankheit und Klinik waren völlig vergessen.

Weg vom Alltag
Unwillkürlich musste ich an Jaime Beck denken, den Mann, der Flüchtlingen in Berlin auf großartig unkonventionelle Weise Deutsch beibringt. Auch er geht immer wieder mit seinen Schülern ins Theater oder in Konzerte – einfach so. Ohne pädagogischen Auftrag oder Anspruch. Einfach nur, weil es schön und interessant ist, ein besonderes Ereignis, weg vom Alltag, hinein in eine ungewohnte Welt und Kultur – für einen Abend, der noch lange im Gedächtnis bleibt.

Und auch für mich selbst war es ein heilsames Erlebnis: Jedes Mal, wenn ich Schüler außerhalb von Schule sehe, fällt mir auf, wie anders sie auf mich wirken – losgelöst von Schule und Unterricht. Früher, als ich noch Klassen mit bis zu 30 Schüler/innen hatte, nahm ich die jungen Menschen manchmal nur noch als „sprechende Köpfe“ wahr, denn ich sah sie ja immer nur vom Bauch aufwärts hinter ihren Tischen sitzend, manchmal nur zwei Stunden pro Woche. Wie schlimm, wenn so ein reduzierter Blick zum Alltag wird, und wie gut die Erkenntnis, dass Lernen überall und in allen möglichen Situationen stattfindet.


*Name geändert
Titelfoto von Malcolm Garret von
Pexels

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