Freies Spielen früher und heute
In den letzten Jahren hat sich das Maß an Beschulung und Betreuung stark erhöht. „Man sieht heute kaum noch Kinder irgendwo alleine“, sagt Kindheitsforscher Michael Hüther (hier). „Und es wird in einigen Jahren gar nicht mehr der Fall sein.“

Von meiner eigenen Kindergarten- und Grundschulzeit weiß ich, dass meine Nachmittage frei waren. Ich verbrachte sie meist versunken in stundenlanges Spielen mit meiner besten Freundin. Wir spielten zuhause, draußen im Garten, im Wald, auf der Straße. Die meisten der Spiele waren selbst erdacht und folgten von uns aufgestellten Regeln. „Freies Spiel ist niemals unstrukturiert“, sagt der Entwicklungspsychologe Peter Gray.

Wir bauten allerhand Dinge aus Holz, oder wir malten Steine an, um diese dann in der Nachbarschaft an „Kunstinteressierte“ zu verkaufen. Außerdem nahmen wir uns unglaublich gerne selbst mit einem Kassettenrecorder auf, ganze Show-Konzepte dachten wir uns dafür aus. Mit anderen Worten: Wir hatten am laufenden Band „originelle Ideen von Bedeutung“. Und genau das ist Robinsons Definition von „Kreativität“.

Fehler – ein gedankliches Konstrukt
Talent entfaltet sich dort, wo wir frei sind, Dinge auszuprobieren – ohne Gedanken an Gelingen oder Scheitern. Mit anderen Worten: „Wer nicht bereit ist, einen Fehler zu machen, wird nie etwas wirklich Originelles schaffen.“ (Ken Robinson).

Daraus ergibt sich das fatale Dilemma, weshalb sich Talententdeckung und Schule häufig ausschließen: Schulen sind meist Stätten, in denen es von Anfang an darum geht, in den Kategorien „richtig und falsch“ zu denken, und das Falsche – den Fehler – möglichst zu vermeiden. Wer wenig Fehler macht, wird belohnt, wer viele macht, bestraft. So ist es bis heute – selbst wenn die Belohnungen harmlos daherkommen und die Strafen subtil verpackt sein mögen.

Wie tiefgreifend Schule hier auf dem falschen Dampfer sitzt, wird klar, wenn man sich das Konzept des „Fehlers“ einmal genauer ansieht. Denn allein die Vorstellung, dass es „Fehler“ gibt, entpuppt sich aus größerer Perspektive als ein typisch menschliches Konstrukt, das uns enorm beschränkt.

Es gibt keinen Fehler
Der Begriff „Fehler“ ist eine Vorstellung, die gar nicht real existiert.
Ähnlich wie die Vorstellung von Ländergrenzen, Unternehmen, Geld und „Märkten“: All diese Dinge existieren nur in unseren Köpfen – nicht aber in der Realität. Wir können vom Weltraum aus keine Ländergrenzen sehen, und auch Firmen kann man nicht sehen bzw. anfassen. Sie sind abstrakte Vorstellungen von uns Menschen, und basieren auf ausgeklügelten Geschichten, die wir uns seit einigen Jahrhunderten immer wieder selbst erzählen  – es sind moderne Mythen (Yuval N. Harari in „Eine kurze Geschichte der Menschheit“).

Auch „Fehler“ ist so ein Mythos, ein Konstrukt, das auf nichts als einer Geschichte basiert: Der Mär von „richtig“ und „falsch“.

In der Natur (oder der Biologie als solche) gibt es weder „richtig“ noch „falsch“, geschweige denn Fehler. Es gibt nur Abbiegungen, Wachstum und Weiterentwicklung. Auch wir Menschen können somit genau genommen gar keine „Fehler“ machen – denn wir sind Teil der Natur (1). Das heißt: Menschen entwickeln sich. So wie alles andere auch. Sie machen keine Fehler – sie können gar keine machen.

Schule und Fehler
Irrsinnigerweise basieren heute alle Schulsysteme weltweit auf dem Märchen, wir könnten Fehler machen, und dass dies, wo es nur geht, zu vermeiden sei.

Daher hat in den meisten Schulen Kreativität keinen Platz. Denn Kreativität bedeutet spielerisches Tun, um seiner selbst willen. Kategorien wie „richtig“ oder „falsch“; gewinnen und verlieren sind dabei völlig irrelevant. Die Zeit, die junge Menschen in der Schule verbringen (mit Unterricht, Klassenarbeiten etc.) hat daher meist wenig mit Kreativität zu tun.

Als Lehrer/in mag man sich selbst beruhigen, in dem man sich sagt: Schule mag zwar unkreativ sein, aber ICH umgehe das, indem ich viele kreative Methoden in meinen Unterricht einbinde! So habe ich früher auch gedacht. Nur, so funktioniert es leider nicht. Denn das Gegenteil von Kreativität ist Methode.

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4 Kommentare

  1. Hallo Linda,
    dem gibt es im Grunde nicht mehr viel hinzuzufügen. Genau so ist es! Und genau darum geht es auch in Henning Becks Buch „Irren ist nützlich.“ Das wirkliche Denken im Sinne von gründlich reflektiertem Denken, das lernen wir nicht in der Schule (die Rahmenbedingungen geben es ja auch nicht her). Aber nur das bringt uns wirklich voran, wenn wir Beanstandenswertes – in welchem Zusammenhang/Kontext auch immer – verbessern wollen.

  2. Hallo Linda,

    ich bin gerade auf deinen Blog gestoßen. Der Artikel hier ist großartig! Du sprichst mir aus dem Herzen, auch wenn ich in der Erwachsenenbildung arbeite.

    Ich frage mich die ganze Zeit, warum wir das Schulsystem nicht endlich ändern. Alle Beteiligten sind sich einig, dass unser System einfach in weiten Teilen Mist ist. Alle Beteiligten ächzen und stöhnen. Doch wenn sich etwas ändert, dann meiner Wahrnehmung nach eher in eine ungünstige Richtung. Hast du eine Antwort, warum wir nicht beherzt eingreifen und den Kindern Kind-sein und Enwicklung ermöglichen?

    Viele liebe Grüße

    Axel

    • Lieber Axel, gute Frage… Ich denke, um ein ganzes System zu verändern, braucht es einen gehörigen Ruck, eine Rebellion, die zu einer Revolution führt. Im Moment gibt es viele einzelne „Strohfeuer“, also einzelne Menschen in Aufruhr, die sich nicht mehr mit dem Bisherigen zufrieden geben und neue Wege beschreiten wollen. Leider sitzen diese Menschen nicht in der (Schul-)Politik. Aber wenn wir uns gut vernetzen, können wir auch „von unten“ Neues anstoßen. Die Friday4Future-Bewegung hat es vorgemacht… Herzliche Grüße, Linda

  3. Hallo Axel, deinen Kommentar finde ich gut. Das Problem ist: Auch wenn „alle Beteiligten ächzen und stöhnen“, so sind sich alle Beteiligten dennoch nicht einig darüber, dass es in vielen Fällen „Mist“ ist. Wären sich alle einig, würden sie es bestimmt ändern, so rein von der Logik her. Sie sind sich aber eben gerade nicht einig! Bei der ganzen Geschichte geht es um das Menschenbild, das „man“, bzw. das wir alle zugrunde legen wollen. Da gibt es durchaus freundlichere Alternativen zu dem, was wir haben. Das ist der radikale Wandel, von dem auch Linda spricht. So einfach geht das aber leider nicht. Dazu braucht es sehr viel, um das zu ändern.

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