„Die Schüler und Schülerinnen müssen regelmäßig in die Schule gehen!“ Vor Kurzem hörte ich wieder diesen Satz. Es ging dabei um Fehlzeiten. Ich saß da und horchte auf. Wer muss hier eigentlich was?

Vom Zwingen und Müssen
Ja, das deutsche Gesetz ist eindeutig: Kinder und Jugendliche müssen zur Schule gehen, und zwar regelmäßig, viele Jahre lang. Die Schulpflicht ist in Deutschland zwar Ländersache, und die Dauer der Schulpflicht variiert von Land zu Land – neun Jahre sind aber überall Minimum, in Hamburg sogar elf.

Elf Jahre, in denen Kinder und Jugendliche nicht über sich und ihre Tagesgestaltung entscheiden dürfen. Elf Jahre, in denen tagtäglich mehrere Stunden Wissen in sie hineingeschüttet wird – meist mit Trichtern, statt mit Gießkannen. Wissen, für das sie sich nicht selbst entschieden haben.

Hinter der Pflicht verbirgt sich ein Zwang, und wer dem nicht Folge leistet, dem drohen unangenehme Konsequenzen (dazu HIER mehr). Die Sachlage ist also klar.

Wer bin ich – Gott?
Doch wenn wir einmal ehrlich wären zu uns selbst, dann würden wir merken: Kein Mensch MUSS irgendetwas, außer irgendwann den Löffel abgeben.
Deswegen kann und möchte ich ungern darüber entscheiden, was andere müssen.

Wenn wir im Schulkontext von „müssen“ reden, meinen wir eigentlich „sollen“. Denn es ist kein Naturgesetz oder unumstößliche Gesetzmäßigkeit, dass Kinder jeden Tag mehrere Stunden ihres Lebens in einer Institution verbringen müssen. Wir Menschen haben uns das ausgedacht. Es könnte auch anders sein.

Newsflash: Fehlstunden haben Gründe
Jedes Fehlen und jede Fehlstunde hat Gründe. Die interessieren mich. Und die nehme ich ernst. „Warum hast du gefehlt?“, als ehrlich gemeinte, offene Frage formuliert, bringt manchmal erstaunliche Erkenntnisse, wie zum Beispiel: „Ich hatte Angst, weil ich meine Hausaufgaben vergessen hatte“, „Ich hatte Magengrummeln wegen der Präsentation“, „Ich kann gerade gar nicht schlafen“, „Mir ging es nicht so gut, meine Mutter ist schlimm krank“ oder „Der Unterricht überfordert mich“. Hintergründe, von denen man sonst wenig erfährt.

Was tun bei Fehlen?
Wenn jemand nicht (mehr) in meinen Unterricht kommt, verurteile ich nicht den, der nicht kommt. Ich verurteile auch nicht mich selbst. Stattdessen suche ich das Gespräch. Die Frage dabei: Gibt es etwas, das ich tun kann, so dass dieser Mensch (wieder) kommen mag?

Wenn ja: Was könnte das sein und kann ich das umsetzen? Hilft es, wenn er/sie zum Beispiel im Unterricht woanders sitzen kann, sich abschotten kann mittels Kopfhörern? Würde es helfen, wenn er/sie nur an drei Tagen käme statt an fünf? Wenn es der Unterricht selbst ist – wie kann ich ihn verändern?

Wenn nein: Welche anderen Wege gibt es für diesen Menschen? Vielleicht ist diese Art von Unterricht nicht die passende für ihn/sie. Welche Alternativen gibt es, sich zu bilden?

Aber!
„Aber wenn es keine Schulpflicht mehr gibt, dann bleiben doch gerade die Schüler aus den bildungsschwachen Familien zuhause!“ So lautet wohl das hartnäckigste Argument für die Schulpflicht.

Abgesehen davon, dass die Erfahrung aus Ländern ohne Schulpflicht keinen Beleg für dieses Szenario liefert, wird dabei Folgendes übersehen:

Gerade Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien brauchen nicht die Schulzwangs-Keule, sondern ehrlich gemeinte Zuwendung, intensive Auseinandersetzung und ungeteilte Aufmerksamkeit zumindest eines Erwachsenen, der sie fördert, begleitet, pusht. Dies können Schulen meist in den wenigsten Fällen gewährleisten.

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6 Kommentare

  1. Liebe Linda,
    (…)…DANKESCHÖN! für diesen Text!
    (…) Deine Worte haben gerade etwas Leichtigkeit gebracht in einer verzweifelten Zeit.
    Lieben Gruß
    E.

    [Kommentartext wurde in Absprache mit Verfasserin gekürzt]

  2. Super interessant
    Danke für diesen Blickwinkel. Eins möchte ich noch einwerfen: ich wohne in der Türkei. Hier wurden 12 Jahre Schulpflicht vor ein paar Jahren eingeführt, damit jeder die Chance hat, zu studieren. Das wiederum musste sein, weil es leider viele Eltern gab, die vorallem Mädchen schnell aus der Schule nahmen, damit sie zuhause den Haushalt machen konnten oder fix verheiratet wurden. Heute gibt es leider immer noch genügend Eltern, in den traditionelleren Gegenden, die ihre Mädchen am liebsten nicht in die Schule schicken wollen würden, aber auch Jungs.
    Ich denke, in Deutschland gibt es auch ein paar Eltern, welche ihre Kinder nicht schicken würden, wenn es keine Pflicht wäre, sie jedoch daheim auch nicht ausbilden würden. Z.b. Eltern, die gewalttätig oder streng religiös sind, Sekten angehören… für ihre Kinder ist Schule sicher eine Art Zufluchtsort. Wie könnten wir sie schützen, wenn die SchulPflicht ausfiele?

    Ansonsten sehe ich es auch so, dass das Fehlen nicht bestraft werden sollte. Ich hatte Gallenkoliken und sehr oft magenschmerzen. Die Lehrer betitelten nich als Mimose. Ich hätte mir Verständnis gewünscht und interessierte Gespräche. Aber wir waren wohl zu viele.

    • Vielen Dank für Ihren Einwand, den ich gut nachvollziehen bzw verstehen kann. Wenn Eltern ihre Kinder willkürlich von Bildungsorten fernhalten, dann ist das schlimm. Denn jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung! Es verstößt gegen das Grundgesetz, wenn Eltern ihren Kindern nicht die Freiräume gestatten, die sie für ihre freie Entfaltung brauchen. Eltern dürfen ihren Kindern Bildung nicht verweigern, diese Verpflichtung muss bestehen bleiben. Hierbei geht es auch um das Kindeswohl und das ist gesetzlich geregelt. Wenn junge Menschen von ihren Eltern völlig vernachlässigt werden, dann ist für diese die Schule tatsächlich ein Rettungsanker. Doch wie furchtbar ist es eigentlich in einer Gesellschaft zu leben, die solche Argumente braucht, um die Schulpflicht aufrecht zu erhalten?
      Ich denke, ein erster guter Schritt könnte sein, wenn die Gebäudeanwesenheitspflicht für die Eltern aufgehoben wird, deren Kinder ein klares NEIN zur Schule haben und das nicht von den Eltern kommt. Wenn wir als Gesellschaft uns weiterentwickeln, mit mehr Empathie und mehr Sinn für Gemeinschaft zusammen leben wollen, es ganz viele Lernorte gibt, an denen junge Menschen sich treffen, dann haben auch die jungen Menschen eine Chance, die von ihren Eltern nicht unterstützt werden, weil dafür andere Menschen einspringen. Herzliche Grüße! Linda

  3. Vielen Dank für diese tollen Worte!
    Ich bin Heipraktikerin für Psychotherapie und habe mich auf Kinder und Jugendliche mit Angst Panikattacken sowie Schulunlust spezialisiert.
    Viele Kids besuchen aufgrund ihrer Ängste oft kaum oder gar nicht mehr die Schule.
    Die einen gehen aufgrund ihrer Ängste nicht mehr, die anderen weil sie Angst vor der Schule haben.
    Das größte Problem während unserer Behandlung ist der Druck von aussen.
    Eltern die zu uns kommen haben in der Regel schon alles probiert..
    Da steht dann meist die angeratene Einweisung in die Klinik an.
    Ich wünsche mir schon lange, dass gerade in solchen Fällen alternativen geschaffen werden.
    Es gibt immer einen Grund warum die Kids nicht in die Schule gehen…dies gilt es herauszufinden um dann gegebenenfalls andere Alternativen zu bieten..
    Ich beobachte das es vielen meiner Klienten in Zeiten von Corona richtig gut geht.
    Alleine das sollte Anlass genug sein um diesen und auch Kindern mit Schulunlust andere Alternativen zu bieten.
    Denn wie Sie es so schön formuliert haben:
    Wirkliches lernen passiert nur im Zustand der Begeisterung.
    Gerne würde ich mich mit Ihnen austauschen denn ich bin ebenfalls der Meinung das sich dringend etwas in unserem Schulsystem verändern darf.
    Herzliche Grüße
    Astrid El-Hagge

  4. Ich bin spät, da leider erst heute auf den Beitrag gestoßen und kann vielem nur zustimmen.

    Als Leiter einer Jugendeinrichtung mit handwerklichem Schwerpunk ist mir aufgefallen, daß den Entscheider*innen in unserem Schulsystem meist die Vielfältigkeit an Erfahrungsräumen fehlt um die Wichtigkeit von vielfältigen eigen Erfahrungsräumen für heranwachsende junge Menschen überhaupt beurteilen zu können. Das Ergebnis ist die zunehmende Einschränkung der Entscheidungsfähigkeit auch bei jungen Menschen. Das Leben besteht zum Großteil aus Entscheidungssituationen. Wenn wir nicht lernen uns im Rahmen von Eigenerfahrungen eine Entscheidungsgrundlage für unsere Handeln zu anzueignen, werden wir eine der herausragendsten Fähigkeiten des Menschseins verlieren. Die Möglichkeit, alle Erfahrungen die ein Mensch machen kann in Bezug zueinander zusetzen und daraus eine Handlungsfähigkeit in der eigenen Entwicklung abzuleiten. In handwerklichen Projekten gelingt es mir zunehmend theoretisches Schulwissen in eigene Erfahrung zu verwandeln und den Kindern neue Horizonte zu eröffnen.

    Es braucht neue Schul- und Lernformen, besser jetzt als später.

    Gruß

    Mathias Link

    • Amen! Lieber Mathias Link, danke für diesen Kommentar. Das, was Sie schreiben, macht für mich total Sinn und das kann ich nur (auch aus eigener Erfahrung mit jungen Menschen) unterschreiben.
      Und: Ich habe mir gerade die Fliegerwerkstatt Berlin angesehen! Das ist ja ein phänomenales Projekt! Ich finde es schlichtweg großartig. Toll, dass Sie sich so für junge Menschen engagieren.
      Hier las ich auch Ihr Statement: „Es gibt niemanden, der nichts kann. Oft sind Talente einfach nur unentdeckt.“ Ohja.
      Danke und viele Grüße, Linda

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