Achtsamkeit ad absurdum geführt
Wie können wir nur auf die Idee kommen, eine so körpernahe, intime Handlung wie „sich gegenseitig massieren“ auf den Stundenplan zu setzen? Wir führen damit etwas, was ja tatsächlich schön sein und für Entspannung sorgen kann, ad absurdum. Wer schon einmal versucht hat, sich auf Kommando zu entspannen, weiß vielleicht, wovon ich rede.

Das Schlimmste aber ist, dass es garantiert Kinder gibt, die es nicht mögen, in einem vollen Klassenraum nach vorgegebener Anleitung einen Mitschüler – den man vielleicht noch nicht einmal besonders leiden kann – zu massieren. Auch, wenn ein Betroffener das so vielleicht nicht offen sagen würde. Und damit nähern wir uns nun dem eigentlichen Problem.

Möchte hier jemand nicht mitmachen?
Denn vielleicht denken sich Lehrende, dass, wenn sie die Kinder vorher fragen, ob das für alle okay ist mit der Traumreise oder der Massage-Session, dann kann doch nichts schief gehen.

Dem ist nicht so.
Denn wenn ein Kind tatsächlich Ängste oder ungute Vorerfahrungen gemacht hat, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass dieses Kind sich nicht äußern wird, wenn ihm jemand diese Frage stellt. Sogar ein Gespräch unter vier Augen wird nicht viel nützen. Kinder wollen in der Regel ihren Lehrpersonen gefallen und sich ihren Wünschen anpassen – und zwar vor allem dann, wenn sie traumatische Vorerfahrungen gemacht haben.

Womit wir beim Kern des Dilemmas (und meiner Wut) angelangt wären:
Denn genau diese traumatischen Erfahrungen sind der Hauptgrund, der meiner Ansicht nach dagegen spricht, einfach mal so Entspannungsübungen wie Massagen oder Body-Scans in den Unterricht einzubauen.

Trauma und seine Folgen
Lasst uns auf die Ursachen von Trauma schauen. Traumata entstehen, wenn ich in einer unaushaltbaren Situation bin, in der ich weder kämpfen noch wegrennen kann.
Beispiele für solch unaushaltbare Situationen sind
– Gewalterfahrungen, ob in der Familie oder der Schule
– körperlich schmerzhafte Erlebnisse in Krankenhäusern (selbst wenn diese aus gesundheitsgründen unvermeidlich ist; der Nutzen wird hier nicht in Abrede gestellt)
– sexuelle Missbrauchserfahrungen
– aber auch Situationen von Ausgrenzung und Abwertung.

Bei all diesen Situationen haben die Opfer erlebt, dass ihr Körper anderen zur Verfügung steht bzw. in manchen Momenten zur Verfügung stehen MUSS – da nämlich sonst noch Schlimmeres passiert, man stirbt, etc.

Was passiert mit uns, wenn wir in eine solch schlimme Situation geraten? Wir können nicht fliehen, wir können nicht kämpfen; also erstarren wir. Um zu überleben. Das ist Trauma.
Und genau diese Erstarrung kann sich wiederholen, wenn ich später – vielleicht in einem ganz anderen Zusammenhang – am Körper berührt werde.

Eigenes Beispiel: gelähmt auf der Liege
Traumatisierte Menschen können nicht einfach sagen, „Nein, das möchte ich nicht.“

Dazu ein Beispiel von mir selbst: Vor Kurzem hatte ich einen Termin bei einer Chiropraktikerin.  Die sagte mir zwar am Anfang, dass ich jederzeit sagen könne, wenn mir etwas unangenehm sei. Als mir dann während der Behandlung aber wirklich einige Handgriffe unangenehm waren, konnte ich gar nichts sagen: Ich lag einfach nur stumm, angespannt und wie gelähmt auf der Behandlungsliege. Genau das gleiche passiert mir manchmal bei Yogalehrern, die mir Hilfestellung geben wollen und mich dabei ungefragt anfassen.

Doch wie kann das sein? Ich bin doch 34 Jahre alt und normalerweise kann ich sagen, was ich will und was nicht…

Der gesunde Wille setzt leider aus bzw. musste er aussetzen, wenn wir traumatische Erlebnisse überlebt haben. Da nützt dann der Satz „sag einfach, was du möchtest und was nicht“ leider herzlich wenig. Traumatisierte Menschen können nicht einfach so sagen, „Nein, das möchte ich nicht“, weil schon vorher die Erstarrung eingesetzt hat. Oft realisiert man den gefühlten Übergriff erst viel später, wenn die Situation vorbei ist.

Was den einen entspannt, ist für den anderen Stress
Ich kann hier erst einmal nur von mir sprechen, wenn ich sage, dass ich es aufgrund meiner Vergangenheit gar nicht mag, wenn mich Menschen, die ich nicht gut kenne, anfassen oder gar massieren. Das wäre weder eine Hilfe zur Senkung meines Stresspegels (im Gegenteil!), noch in irgendeiner Form achtsam oder entspannend für mich.
Doch jetzt mal einen Schritt weiter gedacht: Woher wollen wir wissen, dass es einigen Schüler/innen nicht genauso geht?

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8 Kommentare

  1. Liebe Linda (…), Hamburgerin, Autorin…
    die Geschichte mit solchen Pseudo-Entspannungs-Geschichten ist ganz einfach. Das wird gemacht, weil Entspannung im stressreichen Unterrichtsalltag offensichtlich ein Defizit darstellt. Statt nun aber an die Ursache zu gehen und einen entspannten Unterricht zu machen (Unterricht in einer angstfreien Atmosphäre ohne strukturelle Gewalt auszuüben mit irgendwelchen Druckmitteln – siehe Ihr Rubikon-Interview mit J. Lehrich, B. Stern und B. Assel), hängen sich die „Verantwortlichen“ lieber so ein „Feigenblättchen“ um und sagen dann „Kuck doch, wir tun doch was für die Entspannung! Nämlich solche Übungen! Allerneuster Stand der Psychohygiene, bla, bla, bla.“ Das ist Symptomkurierung in Reinkultur! – Dann muss man im Grundsatz nix ändern! Ganz einfache Denke.

    • Lieber Herr Stadler, so habe ich das noch gar nicht gesehen, aber es stimmt: Entspannung als Defizit, und dann wird – statt auf die Ursachen zu schauen – mit einigen Übungen „interveniert“ und so getan, als wäre dies eine wirklich gute Lösung des Problems (welches nach wie vor bei den Schülern gesehen wird). Danke für Ihren Kommentar, dieser Aspekt fand in meinem Artikel keine Berücksichtigung.

  2. Liebe Linda,
    danke dir für diesen wichtigen Einwand!
    Ich schließe mich meinem Vorredner an: Mein Haupt-Fragezeichen bleibt dabei auch, inwiefern wir damit zu kompensieren und „zuzupflastern“ versuchen, was wir den Schüler*innen durch die übliche Alltagsstruktur zumuten und das an so vielen Stellen ungesunde Auswirkungen hat. Wir sollten die Ursachen angehen, und dafür müssen wir einiges umkrempeln – eben „Schule neu denken“.
    Was ich an dem Achtsamkeitsaspekt gut finde: Die Achtsamkeit mit mir selbst als Mensch in der Schule/im Unterricht/im Leben: Das sollten wir vorleben, unsere eigenen Grenzen kennen und achten und damit auch die Schüler*innen dazu ermutigen. Und dadurch auch die Achtsamkeit und Aufmerksamkeit FÜR unsere Schüler*innen ins Zentrum rücken.
    Viele liebe Grüße von Süd nach Nord,
    Katharina

  3. Hallo Linda und Katharina,
    wenn man sich mit unserer Gesellschafts-Struktur eingehend befasst, dann kann man diesen Achtsamkeits-Hype mit entsprechenden Übungen, die dann auch SchülerInnen zur Ruhe kommen lassen sollen, schnell einordnen als eine halbherzige Symptomkuríerung mehr. Das Muster solcher halbherziger „Lösungsangebote“ zieht sich wie ein roter Faden durch sehr viele gesellschaftliche Bereiche. Selbst, wenn man aus Frust zur Flasche greift und sich besäuft, wäre das so eine „Lösung“ (das drastische Beispiel ist nicht von mir, sondern ursprünglich von Gerald Hüther), deren gemeinsamer Nenner es ist, dass sie eben allesamt zu kurz greifen. Es wird etwas getan, es verdienen welche dran (z.B. irgendwelche „Coaches“), aber an den Kern des Problems kommt man doch nicht heran. An den Kern kommen wir nur mit ganzem Herzen ran!
    Herzlichen Gruß an Sie beide
    Christian

  4. Zwangskonzentration in der beschriebenen Form ist wahrlich ein Übel, auch wenn die Phänomene, die man damit „bekämpfen“ will, sicherlich zum heutigen Schulalltag gehören. Diese Unaufmerksamkeit ist dabei ja nicht auf den Unterricht beschränkt, sondern ein Alltagsphänomen, dem man sich nur schwer entziehen kann. Mir fällt bei diesen „Methoden“ immer wieder ein, wie in meiner Volksschulzeit die Klasse mit über vierzig Schülern in der ersten Stunde mit dem „Vaterunser“ eingestimmt wurde, auch von meinem Lehrer, der durchaus nicht religiös war! Es hat übrigens gut funktioniert, was aber wohl weniger am Gebet lag als an der Persönlichkeit des Lehrers, bei dem man immer das Gefühl hatte, dass er jeden einzelnen seiner Schüler mochte. Und die Schüler mochten ihn! In einer Klasse, in der diese Beziehung zwischen Schüler und Lehrer funktioniert, gibt es wenig Probleme mit mangelnder Konzentration. Dieser pädagogische Bezug – halt ein wenig altmodisch – ist für mich eher der Weg, die im Beitrag angesprochenen „Probleme“ in den Griff zu bekommen. Übrigens habe ich selber an der Universität in Seminaren feststellen können, dass es möglich ist, hohe Konzentration bei StudentInnen auch unter schwierigen Bedingungen zu erhalten. Da war es natürlich nicht ein Gebet 😉

  5. Hallo Linda, danke für diesen Beitrag. Ich teile einige Ihrer Bedenken. Achtsamkeitsübungen sollten immer freiwillig sein und nicht als Mittel eingesetzt werden, um Kinder ruhig zu stellen (was sowieso nicht funktionieren wird). Grundsätzlich fragwürdig ist für mich auch, ob ein Lehrer in der Regelschule, der Noten vergibt und Kinder bewerten muss, gleichzeitig Achtsamkeitsübungen anleiten sollte. Aus meiner Sicht geht das gar nicht.

    Leider wird in unserer heutigen Zeit vieles marginalisiert oder einem Ziel geopfert. Daher kommt auch das (falsche) Verständniss, dass Achtsamkeit dazu dient, zu entspannen oder zur Ruhe zu kommen. Vor allem so genannte „Traumreisen“ haben einfach gar nichts mit der Praxis der Achtsamkeit zu tun.

    Studien zeigen übrigens, dass Kinder, die Achtsamkeit kennen lernen, eher aufmüpfiger als „braver“ werden, weil sie ihre Körperempfindungen besser wahrnehmen und ausdrücken können. Wenn der Pädagoge aber selbst nicht in der Achtsamkeitspraxis zuhause ist, wird er diese „Aufmüpfigkeit“ falsch verstehen und wieder versuchen, sie zu unterdrücken. Und das ist natürlich fatal. Eine fundierte Achtsamkeitspraxis kann Erwachsenen sehr helfen, die Lebendigkeit der Kinder nicht zu unterdrücken – das Hase läuft also genau anders herum…

    Was den Bodyscan betrifft lauern leider auch hier viele Verständnisfallen. NEIN, das ist KEINE Entspannungsübung. Es geht darum, eine wache, interessierte Konzentration aufzubauen und die Übung kann große Schönheit und Tiefe entwickeln. Wie in der Schule braucht es aber zum lernen und um mit Widerständen umzugehen auch Vertrauen (Beziehung!) in denjenigen, der diese Übung anleitet. Und mit Vertrauen in andere und darin, sich anleiten zu lassen, tun sich viele Menschen oft sehr schwer. Möglicherweise hat das mit Traumata zu tun. Allerdings kann Achtsamkeit eben auch Traumata heilen – immer unter der Voraussetzung, dass Menschen diesen Weg im eigenen Tempo gehen können und keinen Zwang erleben.

    Alles das kann man nicht in ein paar Stunden, online oder in eine App erlernen – das wäre ein bißchen wie „malen nach Zahlen“.

    Viele Kinder lieben die Anleitung übrigens sehr. Sie mögen die Stille, sie mögen es, durch ihren Körper geführt zu werden und bei sich anzukommen. Sie mögen es auch, anderen Gutes zu tun, einander zuzuhören und Raum zu haben, in dem sie einmal nicht benotet oder verglichen werden oder etwas leisten müssen. In einem gut geleiteten Stunde kann eine Atmosphäre entstehen, die Kinder stärkt und mit sich und anderen verbindet. Ob die Regelschule dafür der passende Rahmen bietet, bezweifle ich allerdings.

    Vielleicht geben Sie der Achtsamkeit ja noch eine Chance…
    Herzliche Geüße
    Julia

    • Liebe Julia, vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich finde es interessant, dass, wie Sie schreiben, Kinder, die Achtsamkeit kennen lernen, eher aufmüpfiger als „braver“ werden…Offenbar haben Sie da schon eigene Erfahrungen gemacht. Und ja, wie soll ich jemandem wirklich vertrauen, der den „Job“ hat, mich zu bewerten und benoten? Schwierig..
      Ob Achtsamkeit allerdings Trauma heilen kann, wage ich zu bezweifeln, aber das müsste man an anderer Stelle diskutieren ;-). Auch ich kenne aber die positiv-beruhigenden Effekte z.B. von Meditation und nutze diese auch für mich privat. Herzliche Grüße!

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