Entspannt unterrichten… leichter gesagt als getan. Hier sind zehn Dinge, die ich früher getan habe, weil ich dachte, es ginge nicht anders. Doch es geht immer anders.

1. Zu-Spät-Kommer anfauchen
Grrrrr, früher war ich sauer und genervt, ja, ich fühlte mich fast persönlich angegriffen, wenn jemand später in meinen Unterricht kam, als dieser (laut Stundenplan) angesetzt war. Es brachte mich aus dem Konzept und Unruhe in die Klasse – dachte ich jedenfalls. Heute begrüße ich jeden Zu-spät-Kommer mit einem herzlichen „Hallo“ und „Willkommen, schön, dass du da bist!“. Das hebt nicht nur meine Stimmung, sondern erinnert mich auch an das, was ich eigentlich unter meiner kurz aufflammenden Angst vor Kontrollverlust („Mist, wir sind schon angefangen mit Arbeitsblatt xy, und jetzt kommt Tom und platzt herein, aaaargh) fühle und sagen will: Nämlich, dass ich mich im Grunde freue, dass Tom zu mir in den Unterricht gekommen ist. Dass ich das wertschätze. Und dass ich Vertrauen und Zuversicht habe, dass wir das schon hinkriegen mit Arbeitsblatt xy (ohne große Unruhe). Vielleicht ist Arbeitsblatt xy jetzt für Tom auch gerade gar nicht so wichtig. Erstmal ankommen…
Meistens folgt die Begründung für das Zuspätkommen dann auf den Fuß: Stau, Verspätung oder Ausfall bei Bus und Bahn, Verschlafen, Wecker nicht geklingelt, kleiner Bruder musste erst noch zur Schule gebracht werden, weil Mutter verhindert war, oder, oder. Und dann merke ich: Dafür habe ich Verständnis. Nie würde ich eine Freundin anfauchen, wenn sie wegen eines Busausfalls zu spät zu einem Treffen kommen würde. Vor allem, da ich selbst nicht die Allerpünktlichste bin. Chapeaux!

2. Mich über vergessene Hausaufgaben aufregen
Auch dies eine bilderbuchmäßige Chance für Genervtsein, tief seufzen, Kopf schütteln, den Schüler/innen mangelndes Organisations- und Verantwortungsbewusstsein vorwerfen. Sorgsam wird ein neuer Strich im Klassenbuch vermerkt, beim dritten Mal gibt’s nämlich einen Elternbrief und ein Minus für die mündliche Note. Ha! Kontrolle wieder hergestellt. Ja, so habe ich das auch alles mal gedacht und gemacht. Bis ich eines Besseren belehrt wurde.
Wenn junge Menschen nämlich zuhause keine Hausaufgaben erledigen, heißt das erstens nicht, dass sie daheim nur „faul“ herumsitzen. Seitdem ich viele Schüler/innen einzeln betreue und auch bei ihnen zuhause bin, sehe ich erst, wie viele Dinge diese jungen Wesen für sich allein, losgekoppelt von Schule, machen. Sie spielen, malen, zeichnen, musizieren, schauen Dokus, sporteln, chatten, bauen Skateboards, Baumhäuser usw.
Und zweitens: Selbst, wenn sie absolut nichts davon machen — wer weiß, ob nicht genau dieses Nichtstun richtig und wichtig ist für diesen Menschen in diesem Moment?
Hausaufgaben sind ein Versuch, zu kontrollieren, dass der/diejenige sich auch zuhause mit den mir (!) wichtig erscheinenden Unterrichtsthemen beschäftigt. Larissa* (16) zeigte mir kürzlich, wohin das führt: Ich hatte ihr Aufgaben in Englisch und Deutsch gegeben (ja, der Kontrolletti in mir ist noch nicht ganz weg!).  Als sie mir dann in der Stunde sagte, dass sie die Aufgaben vergessen habe, arbeiteten wir sie im Unterricht nach. Zufällig sah ich am Ende der Stunde in ihrem Ordner Rechnungen, die ich nicht kannte und wurde neugierig. Es stellte sich heraus, dass Larissa sich alleine, mit Hilfe von Google und Youtube-Videos, den Satz des Pythagoras beigebracht hatte — inklusive Wurzel-Ziehen und Quadratzahlen. Ich war baff. Zwar hatte ich in der Vorstunde kurz erwähnt, dass dies als nächstes Thema in Mathe kommen würde, aber nicht mit ihrem Interesse daran gerechnet. Seitdem lasse ich Larissa entscheiden, ob und was sie zuhause machen möchte.
* Name geändert

3. Bewerten von mündlicher „Mitarbeit“
Oh, dieses Thema! Ich habe es selber zu Schulzeiten gehasst. Am schlimmsten war es, wenn mich Lehrer/innen um eine Selbsteinschätzung baten, bevor dann ihr Notenschwert auf mich herunter sauste. „Linda, was glaubst du, wie du mündlich in Geschichte stehst?“ „Ähm, so drei?“ „Hm, ich hätte eher vier gesagt.“ Na, dann sagen Sie das doch einfach gleich, ohne mich peinlich ins offene Messer rennen zu lassen! Es war ein Graus.
Darüber hinaus hängen mündliche Noten so sehr ab von so Dingen wie…
– Tagesverfassung
– Persönlichkeit (eher introvertiert, schüchtern oder extrovertiert, ohne Scheu)
– Stand und Rolle in der Klasse
– Beziehung zur Lehrkraft.
Wie will man eine Performance, die abhängt von all diesen Faktoren, gerecht und transparent bewerten? Und warum müssen sich überhaupt alle am Unterrichtsgespräch beteiligen? Das Absurde: Wenn sich wirklich alle 25-30 Schüler/innen ausgiebigst beteiligen würden, wäre das in 45 Minuten überhaupt nicht möglich!
Ich gebe keine mündlichen Noten mehr, es sei denn, jemand möchte dies ausdrücklich (zum Beispiel, um für’s Abi Punkte zu sammeln). Wenn sich jemand nicht beteiligen möchte, aus welchen Gründen auch immer (und es gibt immer Gründe), dann ist das total okay. Auf diese Weise kann man dann auch gleich von den so genannten Pseudofragen (s. Punkt 9) Abschied nehmen. Herrlich!

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2 Kommentare

  1. Hallo Linda!
    Dankeschön für deinen inspirierenden Blog!!!
    Ich habe eine Frage zu den mündlichen Noten: Muss man nicht laut Notenbildungsverordnung mündliche Noten geben? Hat sich da mal jemand bei Dir beschwert? Ich hasse die auch, dachte aber, ich muss welche machen?
    LG, Sara

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